Am vergangenen Wochenende wurden nach zehn Tagen voller Kino-Orgasmen die Gewinner des diesjährigen Festival del Film Locarno gekürt. Neben den Fimfestivals von Berlin, Cannes und Venedig gehört das Festival im Tessin zu den ältesten und wichtigsten der Welt. Wir waren während einiger Tage live vor Ort und liefern euch nun den Abspann der Filmfestwoche.
Locarno im Leo-Fieber
In Berlin ist es ein Bär, in Cannes die goldene Palme: Im kleinen Locarno wird der Pardo, zu Deutsch Leopard jedes Jahr an den besten Film verliehen, der auch zu Beginn jedes Films bedächtig knurrend über die Leinwand stolziert. Die ganze Stadt ist während dieser Tage im Leo-Fieber, beinahe allen Läden an der Piazza Grande sind mit dem gelb-braunen Leofell-Muster verziert, Besucher können sich gar Velos mit Leopardenmuster ausleihen, alle fiebern mit.
Tagsüber werden bereits ab neun Uhr morgens Filme in den Kinos der ganzen Stadt gezeigt, um sich von der „emotion overdose“ zu erholen, gibt es dazwischen knusprige Pizza oder ein kühles Gelato am ruhigen Lago Maggiore. Abends dreht Locarno nochmals voll auf, wenn der Film auf der riesigen Leinwand der Piazza Grande gezeigt wird. Bereits um acht Uhr abends füllen sich die Reihen, kurz vor Filmbeginn sind dann meist alle der knapp 8000 Plätze belegt. Die Sterne funkeln, der Wein schmeckt rosig-sanft, auf dem roten Teppich winken die Stars der Filme den zahlreichen Kameras zu. Noch ein Vorwort der beiden Moderatoren, der müsige Gang des Leoparden über die Leinwand, dann heisst es: Film ab!
Regisseure auf Drogen und DJs im Exil
Neben dem vollen Filmprogramm finden auch zahlreiche Talks mit Filmcrews und -legenden statt. Regisseur Gaspar Noé, der letztes Jahr mit dem provokanten Streifen „Love“ die Meinung des Publikums spaltete und nun mit dem Film „Enter The Void“ am Start war, plappert besonders offenherzig über seine erweiterte Kreativität beim Konsumieren seiner Lieblingsdroge LSD. Seine besten Momente im Leben seien immer auf Drogen gewesen, meint er grinsend, das Publikum lächelt etwas verlegen, aber Noé fühlt seine Worte, das ist alles, was für den Filmemacher zählt.
Ebenfalls vor Ort sind die beiden iranischen DJs und Protagonisten der beat-geladenen Doku „Raving Iran“ von der Schweizerin Susanne Regina Meures. Der mitreissende Streifen, der vom Kampf der beiden Party-Musikern, die ihren Sound im konservativen Iran ausleben wollen, erzählt, begeisterte das Publikum am frühen Sonntagmorgen. Nun wohnen die beiden jungen Iraner in Zürich, doch Aroosh meint, dass es ihn nach Berlin zieht, denn „Berlin is just… much bigger“. Und zudem ja auch die Heimat der Rave-Musik, wo sich Aroosh pudelwohl fühlen wird.
Unsere Filmperlen
Strahlende Sonne, knusprige Pizza und grossartige Filme: So lässt sich die 69. Ausgabe des Festival del Film Locarno mit drei Stichwörtern zusammenfassen. Über 200 Filme wurden auf der Piazza und in den vielen kleineren Kinos gezeigt, wir haben uns von der zauberhaften Atmosphäre des Festivals mit italienischem Flair verzaubern lassen und stellen euch hier unsere persönlichen diesjährigen Filmfavoriten vor:
O Ornitólogo
Der Vogelfan Fernando erleidet bei einer seiner Kanu-Expeditionen Schiffbruch und findet sich gefesselt und geknebelt in den Händen zweier verrückten Chinesinnen auf Wanderschaft wieder. Doch das ist nicht das einzige Abenteuer, dass ihm in dem anscheinend verhexten Wald widerfährt.
Der portugiesische Streifen ist mit ruhiger Hand und Liebe zum Detail wunderschön gefilmt und gleitet immer mehr in die Surrealität. Interpretationen sind zu Haufen anzustellen: Einerseits erinnert die Reise von Fernando an Homers Odyssee, von einem Abenteuer ins nächste, andererseits sind auch unzählige biblische Elemente aufzufinden. Auch wenn etwas verstörend, hat „O Ornitólogo“ den Preis für die beste Regie gewonnen.
Regie: Joāo Pedro Rodriguez / Portugal 2016
Afterlov
Nikos ist ein Jahr nach der Trennung von Sofia immer noch so heartbroken, dass der Hippie mit romantischer Ader seine Angebetete in das Haus eines Freundes lädt. Dort angekommen sperrt der Neurotiker die unwissende Sofia ein und lässt sie erst wieder gehen, wenn er von ihr endlich den Grund der Trennung erfährt.
Die beiden (einzigen) Schauspieler liefern ein wunderbar unterhaltendes Kammerspiel, in welchem sie miteinander so gut harmonieren, wie es die Honigmelone mit dem Parmaschinken tut. Lange, gewitzte Dialoge und Anspielungen direkt ans Publikum zeichnen den griechischen Film aus, der mit seiner Ehrlichkeit unter die Haut geht und einen noch etwas länger über zwischenmenschliche Beziehungen sinnieren lässt.
Regie: Stergios Paschos / Griechenland 2016
Where Is Rocky II?
Der Film des oscarbeschmückten Pierre Bismuth tanzt in Locarno aus der Reihe: Die Doku im Gewand eines Spielfilmes (Bismuth nennt dieses neu erfundene Genre „false fiction“) fühlt sich dank grandiosem Schnitt und mitreissendem Soundtrack wie ein kleines Filmfeuerwerk an.
Ed Ruscha, ein gefeierter Künstler, stellte in den Siebziger Jahren einen künstlichen Felsen in die Wüste, niemand weiss, wieso. Nun, einige Jahre später, geht ein Privatdetektiv dem mysteriösen Kunstprojekt nach, während zwei Hollywooddrehbuchautoren einen fulminanten Blockbuster zu der Geschichte entwerfen. Ein Script gab es zu dem Streifen nicht, alle Dialoge sind spontan, am Schluss aber so geschnitten, dass es wie gescriptet wirkt. Auf alle Fälle ein aussergewöhnliches und kurzweiliges Filmerlebnis!
Regie: Pierre Bismuth / Frankreich 2016
Le Ciel Attendra
Gänsehaut-Momente auf der Piazza Grande: Das französische Drama beschäftigt sich mit der Geschichte zweier Mädchen, die sich in den wirren Jugendjahren von manipulativen Seelenfängern des IS als Djihad-Kämpferinnen nach Syrien gelockt werden.
Der packende Streifen schockiert und wirkt lange nach, die schauspielerische Leistung der teils sehr jungen Darsteller ist überwältigend. In Locarno feierte der Film Weltpremiere, wir sind uns sicher, dass er noch viele Zuschauer auf der ganzen Welt berühren wird.
Regie: Marie-Castille Mention-Schaar /Frankreich 2016
I, Daniel Blake
Regisseur Ken Loach konnte schon vor dem Screening in Locarno stolz auf seinen Film sein, denn „I, Daniel Blake“ hat bereits in Cannes mit der Palme D’Or mächtig abgeräumt. Und das nicht zu unrecht: Das Sozialdrama, das vom gleichnamigen Schotten erzählt, der nach einem Herzinfarkt keine Arbeit mehr findet und sich rührend um die ebenfalls arbeitslose Katie und ihre beiden Kinder kümmert, lässt kaum ein Auge trocken.
Regie: Ken Loach / UK 2016
Und die Gewinner sind…
Am Samstagabend war es dann soweit: Auf der Piazza Grande wurden die Gewinnerfilme bekanntgegeben. Während der zehn Tagen wurden bereits verschiedene Awards an Filmschaffende und Schauspieler wie Mario Adorf oder Harvey Keitel (der beim Screening von „Smoke“ beim Anblick des zahlreich erschienen Publikums gleich umgefallen ist) vergeben, am Schluss fieberten Filmfans und -schaffende dem Urteil der Jury entgegen. Insgesamt war es ein sehr starkes Jahr, hier die Gewinner der 69. Ausgabe des Filmfestivals:
Im Concorso Internazionale gewinnt Ralitza Petrova mit „Godless“ den Pardo D’Oro, den Special Jury Prize Radu Jude mit „Scarred Hearts“. Best Direction geht an João Pedro Rodriguez für „O Ornotólogo“ (siehe Filmtipps). Als beste Schauspielerin wird Irena Ivanova für ihre Perfomance in „Godless“ ausgezeichnet, der beste Schauspieler ist laut Jury Andrej Seweryn in „The Last Family“. Die Special Mention geht an „Mister Universo“ von Tizza Covi.
Weiter geht es mit dem Concorso Cineasti del presente, wo „El Auge del Humano“ von Edurado Williams den Pardo D’Oro absahnt, der Special Jury Prize geht an „The Challenge“ von Yuri Ancarani, der beste aufsteigende Regisseur ist der Japaner Mariko Tetsuya für „Destruction Babies“. Die Special Mention geht in dieser Sparte an „Viejo Calavera“ von Kiro Russo.
Des Weiteren wurden noch frische Regisseure in der Sektion Pardi di domani ausgezeichnet, den Prix du Public bekam Ken Loach für „I, Daniel Blake“ (siehe Filmtipps).
Und somit geht das Festival del Film del Locarno zu Ende, wir haben immer noch einen Filmkater, reisen mit vielen schönen Erinnerungen nach Hause und freuen uns schon auf nächstes Jahr, wenn es an der Piazza Grande wieder heisst: Film ab!
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