In-Between-Sein
Die Goldenen Augen des diesjährigen ZFF sind verteilt: Das Transgender-Drama «Girl» des Belgiers Lukas Dhont gewinnt den Hauptpreis in der Feature Film-Kategorie, während «L’Animale» der Österreicherin Katharina Mückstein im deutschsprachigen Fokus abräumt. Des Weiteren erhält die Doku «Minding The Gap» von Biu Ling eine besondere Erwähnung.
Was alle diese Filme sowie der letztjährige grosse ZFF-Abräumer «Blue My Mind» von Lisa Brühlmann gemeinsam haben: Ihre Figuren sind orientierungslos taumelnde Nicht-mehr-Kinder, Noch-nicht-Erwachsene. Passend zum ZFF, das nun mit stolzen 14 Jahren ebenfalls in die wirre Zeit des Teenageralters eingetreten ist: Welcome to the Genre Coming Of Age.
Das ZFF als Coming Of Age-Magnet
“Female Empowerment, dysfunktionale Familien und Coming Of Age”, antwortet Karl Spoerri bei der dem Festival vorangegangenen Medienkonferenz auf die Frage nach den thematischen roten Fäden der diesjährigen ZFF-Filme. Dass dieses Coming Of Age-Genre am Zurich Film Festival grossen Anlauf findet, ist kein Wunder, schliesslich werden in den Wettbewerbskategorien nur die ersten drei Werke der Filmografie eines Regisseurs akzeptiert. Spätere Filme werden in der Sektion “Special Screening” oder einer anderen Out Of Competition-Sparte gezeigt. Folglich sind viele Werke junger Filmemacher am Festival vertreten, die das Thema Coming Of Age besonders reizt: Selbst meist erst gerade aus der Adoleszenz getreten verarbeiten Jungregisseure gerne ihre eigenen Erlebnisse filmisch oder lassen sich von Jugendereignissen anderer inspirieren. Kaum gibt es Filmemacher, die nicht zumindest in einem Kurzfilm an der Filmschule das Thema des Erwachsenwerdens behandeln. Denn zu keiner anderen Zeit im Leben sind die Figuren so verletzlich wie in ihrer Jugend, nirgendwann die Emotionen so pur: Aus dem schützenden Nest der Eltern geflogen, müssen sie mit ihren unausgereiften Gehirnen auf eigener Faust den richtigen Pfad ihres Leben finden. Auch dieses Jahr strotzte das Programm wieder vor Stücken über die irrationalen Jahre der Pubertät, der hormongeladenen Jugend-Hysterie, dem verwirrenden In-Between-Sein.
Denn zu keiner anderen Zeit im Leben sind die Figuren so verletzlich wie in ihrer Jugend, nirgendwann die Emotionen so pur
White Trash auf der Leinwand
In «Firecrackers», dem Langspielfilmdebüt der Kanadierin Jasmin Mozaffari, wird das Leben der beiden besten Freundinnen Lou (Michaela Kurimsky) und Chantal (Karena Evans) im White Trash-Milieu beleuchtet. Die beiden Wildfires sehnen sich nach nichts mehr, als endlich ihren ärmlichen Lebensverhältnissen zu fliehen. Doch Chantals Ex-Freund gefährdet ihren Fluchtplan. Erst nach zerbrochenen Autoscheiben, Selbstprostitution und 90 Minuten Existenzkampf gelingt es den beiden hysterischen Mädchen-Frauen, aufzubrechen. Stark erinnert das Thema der White Trash-Unterschicht an Andrea Arnolds «American Honey» (2016), in dem die junge Star in einer wilden Clique aufgenommen wird oder an das herzzerreissende «The Florida Project» (2017), das übrigens letztes Jahr am ZFF lief, über die 6-jährige Moonee und ihr Leben in einem ärmlichen Motel vor dem strahlenden Disneyland. Der Film von Sean Baker ist zwar nicht dem Genre Coming Of Age zuzuordnen, sondern gehört eher der Sparte Sozialdrama an, dennoch portraitiert er packend die amerikanische Randgesellschaft am Abgrund der Existenz.
Overacting und Erfahrung als Authentizitätskiller
Die Story von «Firecrackers» klingt gut, funktioniert aber nicht ganz. Das Problem: Die Hauptdarstellerinnen sind gut fünf Jahre älter als ihre Figuren, auch arbeiteten beide zuvor schon an zahlreichen Produktionen vor sowie hinter der Kamera. Die fulminanten Filme «American Honey« und «The Florida Project» hingegen wurden beide mit Laiendarsteller gedreht, die selbst in ähnlichen Umständen aufwuchsen und von den RegisseurInnen sozusagen auf der Strasse entdeckt wurden. Diese Rawness der Schauspieler verleiht den Filmen eine selten gesehene Authentizität. Ihre Erfahrung, persönlich sowie filmgeschäftlich, können weder Kurimsky noch Evans (die bereits in Musikvideos für Drake Regie geführt hat) in ihren Rollen nicht abstreifen. Zwar bestechen sphärische, mit düsteren Electro-Klängen des Kanadiers Casey MQ unterlegte Aufnahmen der umherirrenden Jugendlichen. Doch zu gespielt wirkt das Drama, zu kontrolliert unkontrolliert die Handlungen der besten Freundinnen, zu aufgesetzt die Szenen, in denen sich die beiden Mädchen betrinken, Hustensirup schlucken und herum kreischen. Denn die Schauspielerinnen selbst haben diese Zeit voller Alkohol, Drogen, Parties und Herzensbrecher schon hinter sich und mussten sich das Feuerwekrskörper-Verhalten in der einjährigen Probezeit vor dem Dreh wieder aneignen.
«The Miseducation Of Cameron Post» von Desiree Akhavan hapert mit ähnlicher Problemstellung: Chloë Grace Moretz, bekannt aus «Kick-Ass», steht bereits seit 14 Jahren vor der Kamera und auch Sasha Lane hat nach ihrer fabulösen Performance in der ihr auf den Leib geschnittenen Rolle der Star in «American Honey» mit ihrer Rolle als Punk-Christin zu kämpfen. Zu wuchtig und einseitig unberührt scheint ihre Figur, sodass von der ersten Screen-Minute an kaum Empathie für sie aufkommt. Nichtsdestotrotz ist «The Miseducation Of Cameron Post«, der auf dem gleichnamigen Roman von Emily M. Danforth basiert, ein wichtiger und guter Film. Für einen Coming Of Age-Film ist die Entwicklung aller drei Hauptfiguren allerdings zu gering, vielmehr geht es um deren Kampf, Homosexualität in die Gesellschaft zu integrieren und die eigene Sexualität nicht verstecken zu müssen. Wie bei «Firecrackers» streben sie das Ziel an, ihrem kleinen Gefängnis, einem christlichen Umerziehungsinternat, zu entfliehen und schaffen dies erst kurz vor dem Abspann.
“I’m tired of feeling disgusted with myself.”
Hier besitzt «L’Animale» von Katharina Mückstein einen relevanten Vorteil: Die Rolle der Protagonistin Mati ist extra auf die Jungschauspielerin Sophie Stockinger zugeschrieben. Diese hat zuvor schon in einer älteren Produktion von der österreichischen Regisseurin mitgespielt, welche unbedingt nochmals einen Film mit der talentierten Wienerin drehen wollte, bevor diese an die Schauspielschule geht und dort -laut Mückstein – der Gefahr unterlaufe, die sensible Unschuld und das reine, “animalisch” impulsive Schauspiel zu verlieren. Das klappt hervorragend. Auch wenn die Geschichten der verschiedenen Familienmitglieder von Mati keine neuen sind und eher zahm daherkommen, überzeugt «L’Animale» mit seinen sorgfältiger Inszenierung und ästhetischen Bildern. In der Schule analysiert Mati die letzte Strophe Goethes “Selige Sehnsucht”:
Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
Umschreibend für den ganzen Film: Die Entwicklung der einzelnen Figuren, die sich ihrer Angst Stellen müssen, um vorwärts zu kommen. Mati findet sich im Zwiespalt zwischen ihrer “Wixer”-Gang und der sanften aber coolen Carla (Julia Franz Richter). Ihr Vater Paul (Dominik Warte) muss erkennen, dass er sich zu Männern hingezogen fühlt und ihre Mutter Gabi (Kathrin Resetartis) steht vor der Herausforderung, den entdeckten Betrug ihres Mannes zu verarbeiten. Damit entkoppelt Mückstein das Thema der Selbstfindung der Jugend und zeigt auf, dass sich der Mensch sein ganzes Leben lang weiterentwickelt und sich immer wieder neu findet. Wenn am Schluss dann alle Figuren in Parallelmontage den titelgebenden Song von Franco Battiato singen, wirkt das zwar ein wenig kitschig, aber auch wunderbar ehrlich und verbindend.
“Wirst sehen, jetzt ist dir bald nimmer Wuoscht, was die Burschen von dir denken.” – “Oldaa!”
So 2018, so #LGBT
Eine Gemeinsamkeit der diesjährigen Coming Of Age-Spielfilme ist das in der zeitgenössischen Kultur topaktuelle LGBT-Topic. Während Unschuld, Naivität und Unselbstständigkeit beim Erwachsenwerden verloren gehen, manifestiert sich auf dem chaotischen Irrweg in das selbstbestimmte Leben die eigene ideelle sowie sexuelle Identität. Am eindringlichsten geht hier «Girl» von Lukas Dhont auf das Thema sogenannten “Abweichung der sexuellen Norm” ein. Dessen Protagonistin Lara (Victor Polster) wurde als Junge geboren, fühlt sich aber als Mädchen. Der Termin ihrer Geschlechtsumwandlung steht kurz bevor, der Druck in der Ballettakademie wächst. Besonders herzerwärmend ist die Vater-Tochter-Beziehung in «Girl»: So wird nie diskutiert, ob sich Lara nun umoperieren darf, vielmehr versucht ihr Vater , sie zu einer selbstbewussten jungen Frau zu erziehen.
Eine Gemeinsamkeit der diesjährigen Coming Of Age-Spielfilme ist das in der zeitgenössischen Kultur topaktuelle LGBT-Topic. Während Unschuld, Naivität und Unselbstständigkeit beim Erwachsenwerden verloren gehen, manifestiert sich auf dem chaotischen Irrweg in das selbstbestimmte Leben die eigene ideelle sowie sexuelle Identität
“Tout s’passe bien.”
Auch in «The Miseducation of Cameron Post» von Desiree Akhavan geht es um “same sex attraction” und deren Handhabung im Jahr 1993. Hier sorgt die “abnorme” Sexualität der Hauptfigur Cameron (Moretz) für Konflikt: So wird die Schülerin von ihrer Pflegemutter in eine christlich geführte Schule namens “God’s Promise” verfrachtet, wo ihr ihre Vorliebe für das gleiche Geschlecht ausgetrieben werden soll, nachdem die Romanze mit ihrer Schulfreundin Coley (Quinn Shephard) auffliegt. Dort soll ihr Misbehaviour umerzogen werden – so richtig daran glauben, dass etwas mit ihr nicht stimmt, tut Cameron aber von Anfang an nicht.
In «L’Animale» wird der Beginn einer lesbischen Romanze zwischen dem mopedfahrenden Tomboy Mati und Carla angedeutet, nachdem sich Mati nach dem Liebesgeständnis ihres besten Freundes eingepfercht fühlt. Währenddessen flüchtet ihr Vater Paul in die Armen anderer Männer und hinterfragt seine eigene Sexualität. Für LGBT-Festivals wäre ihr Film allerdings selten genug “schwul” gewesen, meint Mückstein, weswegen sie sich mit «L’Animale» irgendwo zwischen normalem Coming Of Age und homosexuellem Kino wiederfindet. Die Filmkunst spiegelt hier die Anliegen der zeitgenössischen Themen, und fungiert als Verarbeitungstool für Filmemacher und Publikum.
Die Jugend als direkte Konsequenz der Kindheit
“When you’re a kid you just do, you just act. And then, somewhere along the line, everyone loses that.”
Das Auffangen des jugendlichen Spirits, der sich allmählich in einen erwachsenen wandelt, funktioniert aber nirgends besser als Im Dok-Film «Minding The Gap». Regisseur Bing Lui porträtiert darin seinen Freundeskreis, der von der geteilten Leidenschaft des Skatens zusammengeschweisst wird. Während vier Jahre verfolgte er Zack, der sehr jung Vater wurde, Keire, der wiederum seinen Vater früh verlor und sich mit seiner afroamerikanischen Herkunft auseinandersetzt, sowie die ganze Clique um das Dreigespann. Was anfangs als Dokumentarfilm über das Leben junger Männer in Amerika (als Parallele zu Richard Linklaters «Boyhood» (2014)) und das Skaten angedacht war, entpuppt sich schnell zu einer Art Therapie für sich und seine Freunde, die alle mit häuslichem Missbrauch in Kontakt kamen. In ausführlichen Interviews ergründet Biu Ling, welche Erlebnisse der Kindheit seine Freunde prägte, die sie auf die Skateboards trieb und steht am Ende selbst auch vor der Kamera, um sich seiner Vergangenheit zu stellen. Da Biu Ling nicht irgendein fremder Regisseur, sondern der beste Freund seiner Portraitierten ist, öffnen sich die Skaterkids in einer Ehrlichkeit und Tiefe, die ans Herz geht. Anstatt mühselig konstruiert und gespielt, profitiert dieser Film aus lebensnaher Echtheit: Zusammen mit der vogelfreien Cinematographie einer der besten Filme über das Erwachsenwerden, der in den letzten Jahren vor unseren Augen auf der Leinwand geflimmert ist.
Das Auffangen des jugendlichen Spirits, der sich allmählich in einen erwachsenen wandelt, funktioniert aber nirgends besser als Im Dok-Film «Minding The Gap»
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