Zwei Männer, eine Kuh und der Traum vom komfortablen Leben: Kelly Reichardts «First Cow» ist ein berührender Anti-Western über die Spannung zwischen zarter Freundschaft und profitorientiertem Individualismus in der amerikanischen Pionierzeit.
Doch «First Cow» beginnt in der Gegenwart, mit einem geradezu literarischen Prolog – einer Erinnerung daran, wie viel näher die Vergangenheit liegt, als wir uns das gerne vorstellen. Eine junge Frau (Alia Shawkat) spaziert mit ihrem Hund durch ein Stück Wald und stösst auf einen Totenschädel, dann auf zwei vollständige Skelette. Hinter ihr pflügt ein gigantisches Frachtschiff gemächlich durch den künstlich begradigten Columbia River, einst die Hauptverkehrsachse im nordwestlichen US-Bundesstaat Oregon. Das Bild des Frachters wird später eine Entsprechung finden: ein bescheidenes Floss, das 200 Jahre vorher eine braune Milchkuh denselben Fluss entlangbefördert – und damit die historischen Mechanismen in Gang setzt, die letzten Endes für Flussbegradigungen und Frachtschiffindustrie verantwortlich sind.
Besagte Kuh ist nämlich, ganz dem Titel entsprechend, die erste im noch jungen Oregon Territory, in dem sich im Jahr 1820 die Pelztrapper erbitterte Konflikte um das «weiche Gold» liefern. Eingeschleppt wurde sie von einem britischen Kommissionär (Toby Jones), dem «Chief Factor», der davon träumt, aus einem ungehobelten Trappernest irgendwo am Columbia ein florierendes Handelszentrum zu machen: Eine Kuh bedeutet Landwirtschaft, Landwirtschaft bedeutet Sesshaftigkeit, «Zivilisation» und stabilen Handel. Es ist die Geburt des pazifischen Kapitalismus.
«Eine Kuh bedeutet Landwirtschaft, Landwirtschaft bedeutet Sesshaftigkeit, ‹Zivilisation› und stabilen Handel. Es ist die Geburt des pazifischen Kapitalismus.»
Und auch der schüchterne Koch Otis «Cookie» Figowitz (John Magaro) und der chinesische Einwanderer King-Lu (Orion Lee) wollen ein Stück vom Kuchen abhaben: Des Nachts schleichen sie sich auf das Land des Kommissionärs, melken die Kuh, verarbeiten die Milch zu Biscuits und verkaufen das simple Gebäck nach einem «geheimen chinesischen Rezept» an die begeisterten Trapper.
Es ist nicht das erste Mal, dass Kelly Reichardt – eine Meisterregisseurin, die von der Schweizer Kinolandschaft schon seit ihrem Debütfilm «River of Grass» (1994) partout ignoriert wurde – die amerikanische Geschichte gegen den Strich, also ohne «Manifest Destiny»-Allüren, Frontier-Romantik und klassisches Westernheldentum, inszeniert. 2010 drehte sie mit «Meek’s Cutoff» ein düsteres kleines Kostüm-Roadmovie um drei Familien, die sich in den 1840er Jahren auf dem Oregon Trail verirren, einen einsamen Cayuse-Indianer einfangen und sich im Angesicht des Verdurstens in Rassismus und koloniale Überlegenheitskomplexe flüchten. In elegischer Schlichtheit deutet Reichardt den viel besungenen «Pioniergeist» des frühen Amerikas um zu einer toxischen Mischung aus wirtschaftlicher Not, männlicher Arroganz und weisser Paranoia.
«Die schönsten Szenen des Films sind entsprechend jene, in denen Reichardt, in ihrer unnachahmlich unaufgeregten Art, die beiden Protagonisten in Momenten der Ruhe zeigt.»
In «First Cow» vermischt Reichardt diese kritische Auseinandersetzung mit der amerikanischen Geschichte – die Idee, dass der «amerikanische Traum» von der sozialen Mobilität von Beginn weg eben nur eine Utopie war – mit einer zärtlich vorgetragenen Männerfreundschaft, wie man sie aus ihrem Lo-Fi-Drama «Old Joy» (2006) kennt.
Cookie und Lu passen nicht in ihre Zeit, und schon gar nicht an ihren Ort: Sie wollen nicht ihre Männlichkeit in der Wildnis unter Beweis stellen, stürzen sich nicht in Raufereien, hegen nicht einmal grossspurige Aspirationen auf ein Biscuit-Imperium. Ihr Wunsch ist nichts weiter als ein einigermassen unbeschwertes Leben. Die schönsten Szenen des Films sind entsprechend jene, in denen Reichardt, in ihrer unnachahmlich unaufgeregten Art, die beiden Protagonisten in Momenten der Ruhe zeigt: Lu, der am Fluss auf einer Matte faulenzt; Cookie, der den Blockhüttenboden fegt und Wildblumen zur Dekoration pflückt, während Lu Holz fürs Herdfeuer hackt. Es sind Inseln der stillen Menschlichkeit inmitten des unaufhaltsamen Stroms der Geschichte.
Doch auf Dauer gibt es davor kein Entrinnen: Die grossen historischen Umwälzungen sind der Grund, warum sich Cookie und Lu überhaupt erst im unerbittlichen Oregon Territory wiederfinden – Cookie sah im Bäckergewerbe an der Ostküste keine Zukunft, Lu geriet an Männer, die ihn lynchen wollten – und warum sie sich gezwungen sehen, illegal an der lokalen Wirtschaft teilzunehmen. Sie leben in einer Welt, in der selbst zwischenmenschliche Beziehungen von Kapital und Expansion regiert werden, veranschaulicht durch die Heirat des Chief Factors mit einer Vertreterin des ansässigen Multnomah-Stamms (ein wunderbarer Auftritt von Lily Gladstone und ihrem Szenenpartner, dem grossen Gary Farmer).
«‹First Cow› handelt, wie alle Filme von Kelly Reichardt, vom Gestrandetsein: vom Kampf, als einsames Individuum ein Spielball von äusseren Umständen zu sein.»
«First Cow» handelt, wie alle Filme von Kelly Reichardt, vom Gestrandetsein: vom Kampf, als einsames Individuum ein Spielball von äusseren Umständen zu sein, die man kaum beeinflussen kann; aber auch von den kleinen Gesten der Freundschaft und des Mitgefühls, welche dieser emotionalen Last entgegenwirken können. Es ist eine schlichte, aber zutiefst empathische Liebeserklärung an die unspektakulären Freuden und Hoffnungen im Leben – und zugleich ein klarsichtiges Drama über die gesellschaftlichen und historischen Kräfte, die dafür sorgen, dass man sich an Männer wie den Chief Factor erinnert, solche wie Cookie und Lu aber im Nebel der Geschichte verschwinden.
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Kinostart Deutschschweiz: 22.7.2021
Filmfakten: «First Cow» / Regie: Kelly Reichardt / Mit: John Magaro, Orion Lee, Toby Jones, Lily Gladstone, René Auberjonois, Gary Farmer, Alia Shawkat / USA / 121 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Sister Distribution / © Allyson Riggs / A24 Films
Mit ihrer bekannt feinfühligen Art erzählt Kelly Reichardt in «First Cow» die berührende Geschichte einer Freundschaft – und rechnet gleichzeitig mit dem amerikanischen Kapitalismus ab.
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