Spirituelles Kino für das 21. Jahrhundert: Paul Schrader, der Drehbuchautor von modernen Klassikern wie «Taxi Driver» und «Raging Bull», legt mit «First Reformed» ein hochkomplexes Drama über Religion, Kapitalismus und den Klimawandel vor.
Der schweigsame, gewissenhafte Pfarrer Ernst Toller (ein grandioser Ethan Hawke) steckt mitten in einer tiefen Glaubenskrise: Sein Sohn, der sich auf seinen Rat hin beim Militär meldete, ist im Irakkrieg gefallen. Tollers Wirkungsstätte, eine historische reformierte Kirche in der New Yorker Provinz, wird von einer nahen Megachurch verwaltet und ist primär dazu da, Touristen anzulocken und Souvenirs zu verkaufen. Die Menschen, die sonntags Tollers Predigten lauschen, lassen sich an einer Hand abzählen. Einer davon ist Michael (Philip Ettinger), ein depressiver Umweltaktivist, der seine schwangere Frau Mary (Amanda Seyfried) davon überzeugen will, die Schwangerschaft abzubrechen: Es sei unmoralisch, ein Kind in eine Welt zu bringen, die ungebremst in Richtung Klimakollaps steuert.
«First Reformed» ist ein klarsichtiges, ästhetisch und inhaltlich rigoroses Stück Kino, das in einem Atemzug mit den grossen Filmwerken über den Glauben zu nennen ist. Wie Robert Bresson in «Journal d’un curé de campagne» (1951), Carl Theodor Dreyer in «Ordet» (1955), Ingmar Bergman in «The Seventh Seal» (1957) oder sein Freund und Weggefährte Martin Scorsese in «Silence» (2016) ringt Paul Schrader hier mit essenziellen Themen, die auch für Nichtchristen, Agnostiker und Atheistinnen dringend relevant sind.
In langen, messerscharfen Dialogen und ruhigen, kargen Einstellungen im nüchternen 4:3-Format – kurz: in protestantischer Schlichtheit – beleuchtet Schraders Quasi-Allegorie die Überschneidungspunkte von Religion, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft und die Ohnmacht des Einzelnen, im Angesicht dieser immensen abstrakten Konstrukte etwas von Bedeutung zu schaffen, ohne dabei einem destruktiven Fanatismus zu verfallen.
Ernst Toller, intellektuell radikalisiert durch Michaels Argumente, sucht verzweifelt – und scheinbar vergebens – nach Mitteln und Wegen, Gutes zu tun: Die jungen Gläubigen, mit denen er sich austauscht, sind bornierte Eiferer; er zweifelt daran, ein positiver Einfluss in Marys Leben zu sein; er erzählt auf seinen Kirchenführungen davon, wie die lokale Gemeinde einst in der Sklavenbefreiung aktiv war – während sie heute dankend die Spenden skrupelloser Grosskonzerne annimmt, die sich in der öffentlichen Wahrnehmung als Wohltäter profilieren wollen.
«Schrader hat einen ebenso brillanten wie schonungslosen Film über ein ganz spezielles und sehr zeitgemässes Gefühl der Hilflosigkeit gemacht.»
Und über allem hängt das Phantom der drohenden Klimakrise: «Will God forgive us?» ist eine der zentralen Fragen des Films. Kann selbst ein barmherziger Gott der Menschheit vergeben, dass sie sehenden Auges seine Schöpfung zerstört? «First Reformed» behauptet nicht, eine Antwort darauf zu haben und legt es mit seinem Ende sogar darauf an, weitere Fragen aufzuwerfen. Vielmehr hat Schrader einen ebenso brillanten wie schonungslosen Film über ein ganz spezielles und sehr zeitgemässes Gefühl der Hilflosigkeit gemacht: Wir alle können gute Taten vollbringen; viele wollen und tun dies auch. Aber was, wenn das nicht reicht?
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«First Reformed» läuft bis zum 26. Juni exklusiv im Kino Xenix in Zürich. Tickets gibt es hier.
Filmfakten: «First Reformed» / Regie: Paul Schrader / Mit: Ethan Hawke, Amanda Seyfried, Philip Ettinger, Cedric Kyles, Victoria Hill / USA / 113 Minuten
Bild- und Trailerquelle: A24
«First Reformed» ist essenzielles Gegenwartskino, das mit den Jahren wohl nur noch an Relevanz gewinnen wird.
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