Steven Vit begleitet seinen Vater Rudy mit der Kamera auf dem Weg in den Ruhestand. «Für immer Sonntag» klingt unspektakulär, ist aber ein Highlight des jüngeren Schweizer Dokumentarfilms.
Jahrzehntelang war der gebürtige Kanadier Rudy Vit ein hohes Tier im Thuner Technologieunternehmen Schleuniger, war viel auf Geschäftsreise, lebte den alten Wirtschaftswundertraum des schrittweisen Sichhocharbeitens in einer Firma, die mit der Zeit zu einer Art zweiten Heimat wird.
Und dann war mit 65 vom einen Tag auf den andern Schluss: Der Ruhestand rief. Rudy musste keinen Wecker mehr stellen, keinen Gang ins Büro mehr antreten, keine Verhandlungen in Shanghai mehr führen. Plötzlich war genug Zeit da, um den Morgenkaffee in Ruhe auszutrinken und nach Belieben auf den Golfplatz zu fahren. Doch gleichzeitig warteten da auch neue Herausforderungen: Die Tage, die sich arbeitsbedingt selber ausfüllten, waren ebenso vorbei wie jene, in denen Rudy und seine Ehefrau Käthi Vit, Geschäftsreisen und Arbeitszeiten sei Dank, auf regelmässigen persönlichen Freiraum zählen konnten.
«Was auf dem Papier vielleicht nach ermüdend profaner Dokumentarfilmkost klingt, erweist sich schnell als einer der besten Schweizer Filme der letzten Jahre.»
Es ist eine Geschichte, die sich allein in der Schweiz jedes Jahr in mehr oder weniger ähnicher Form tausendfach abspielen dürfte. Insofern hätte sich Regisseur Steven Vit für sein Langfilmdebüt sicherlich eine spektakulärere Prämisse als «Papa geht in Rente» aussuchen können – doch was auf dem Papier vielleicht nach ermüdend profaner Dokumentarfilmkost klingt, erweist sich schnell als einer der besten Schweizer Filme der letzten Jahre.
Denn Vits Chronik einer «ganz normalen» Pensionierung ist zugleich berührend intim und anregend zeitgemäss. «Für immer Sonntag» beginnt als der Versuch eines Sohnes, seinem schwer fassbaren Vater näherzukommen – der erste längere Abschnitt des Films ist Rudys letzter Geschäftsreise gewidmet –, und verwandelt sich in der Folge in ein vielschichtiges Porträt über das Älterwerden. Rudys schwieriger Übergang vom mächtigen, oft abwesenden Geschäftsmann zum sesshaften Rentner, der seine Rolle in den eigenen vier Wänden neu definieren muss, ist nicht nur für ihn eine Alterserscheinung, sondern eine Entwicklung, die allen Beteiligten einen Reifeprozess abverlangt.
Viele Szenen zeigen Rudy und Käthi in häuslichen Konfliktsituationen: Er will das Zeitungsabo abbestellen, sie nicht. Er will kochen, sie weist ihn darauf hin, dass sie es besser kann. Sie will ihre Gefühle in die Kamera sprechen, er macht den Hampelmann. Ein ausgedehntes Kapitel des Films setzt sich mit Rudys lang gehegtem Gedanken, sich zumindest vorübergehend in sein Geburtsland abzusetzen, auseinander. Doch auch am 32-jährigen Regisseur, der längst nicht mehr bei den Eltern wohnt, gehen diese Selbstfindungsversuche nicht spurlos vorbei: «Jedes Mal, wenn ich zu Besuch komme», erzählt er per Voiceover, «merke ich, dass meine Eltern wieder etwas älter geworden sind – und ich auch.»
Doch obwohl «Für immer Sonntag» auf der familiären Ebene ein bewegend versöhnliches Ende nimmt, das gerade für thematisch direkt Betroffene – also nicht nur für Menschen im Rentenalter, sondern auch für Millennials und Gen-Xer mit Baby-Boomer-Eltern – kathartisch sein dürfte, schwelt unter der Oberfläche des Films ein breiter gefasster gesellschaftlicher Konflikt, der mindestens ebenso lange nachhallt.
«Der Film ist simpel, aber nicht banal, emotional, aber nicht sentimental, relevant, aber nicht selbstgefällig.»
Vit spielt schon früh darauf an, als er sagt, dass der berufliche Werdegang seines Vaters ein Auslaufmodell sei; und auch sein Sinnieren über das Aneignen, Ablegen und Bestehenbleiben von Persönlichkeiten und Eigenschaften im Laufe eines Lebens zeigt in diese Richtung: Wie lange wird es wohl dauern, bis Rudys Geschichte nicht mehr die Norm ist? Werden sich Steven, sein Bruder Bryan und ihre ganze Generation überhaupt noch in der zwiespältigen, aber letztlich eben doch komfortabel-privilegierten Situation wiederfinden, als Mittsechziger einen Strich ziehen zu können und zu sagen, es sei fortan «für immer Sonntag»?
Da Vit aber zum Glück nicht der im Dokumentarfilm weit verbreiteten Versuchung erliegt, seine kleine, feine Familiengeschichte künstlich zu universalisieren – etwa durch Interviews mit Expert*innen –, werden diese Fragen nie in der Vordergrund gezerrt. So gelingt «Für immer Sonntag» ein Kunststück, das nur wenige Debütprojekte meistern: Der Film ist simpel, aber nicht banal, emotional, aber nicht sentimental, relevant, aber nicht selbstgefällig.
Über «Für immer Sonntag» wird auch in Folge 44 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Kinostart Deutschschweiz: 19.5.2022
Filmfakten: «Für immer Sonntag» / Regie: Steven Vit / Mit: Rudy Vit, Käthi Vit, Steven Vit, Bryan Vit / Schweiz / 86 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Lomotion, Filmbringer
Rudy Vit wird pensioniert – und inspiriert damit Steven Vit zu einem anrührenden, sozial relevanten Familienporträt. «Für immer Sonntag» ist einer der besten Schweizer Filme der letzten Jahre.
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