Nach seiner gepriesenen Yusuf-Trilogie, bestehend aus den Filmen «Yumurta» («Ei»), «Süt» («Milch») und «Bal» («Honig»), vervollständigt der türkische Filmemacher Semih Kaplanoğlu mit der monochrom-farbenen Sci-Fi-Parabel «Grain» seine filmografische Frühstückstafel und begibt sich in die mysteriösen Gefilde des gerühmten Tarkovsky.
Irgendwann in der nahen Zukunft, in einem Land, in dem alle in gebrochenem Englisch miteinander reden: Wie es Al Gore in «An Inconveniet Truth» vorausgesagt hat, kämpft die Bevölkerung nach einem drastischen Klimawandel mit einer Hungersnot. Längst ist das Land in Zonen eingeteilt: Die Elite der Bevölkerung wohnt in Städten, der Rest der Bevölkerung lebt in den Deadlands und kämpft ums Überleben. Wissenschaftler suchen nach dem Gencode für das perfekte Korn, um die Welt vor dem baldigen Untergang zu bewahren. Mittendrin: Professor Erol Erin (Jean-Marc Barr), der sich der Lösung des Problems nahe sieht. Als Erin von einem verstossenen Wissenschaftler erfährt, der aufgrund seiner kontroversen aber vielversprechenden Theorie verstossen wurde, begibt er sich mit seinem Gehilfen Andrei (Grigoriy Bobrygin) in die Deadlands, um den mysteriösen Cemil Akman (Ermin Bravo) aufzuspüren.
„We’re always in a dream. We wake up when we die.“
«Grain» ist Kaplanoğlus bisher teuerste Produktion und komplexestes Projekt. Mehr als sieben Jahre sind vergangen, seitdem der türkische Filmemacher mit seinem letzten Teil der chronologisch rückwärts erzählten Yusuf-Trilogie an der Berlinale den Goldenen Bären gewann. In dieser Filmreihe konzentriert sich der türkische Regisseur auf die Geschichte eines einzelnen Jungen, die er chronologisch verkehrt erzählt. Bei «Grain» hingegen geht es um die ganze Menschheit: Menschen zerstören den Planeten, verändern Genmaterial, bauen Mauern, um die Gesellschaft zu unterteilen und kämpfen um ihre Existenz, wobei das eigene Ego früher oder später zurückgeschraubt werden muss. Dabei lässt sich Kaplanoğlu von den Suren des Irans, seiner Heimat Anatolien und der Flüchtlingskrise, die er während des Produktionsprozess selbst miterlebt hat inspirieren und verdichtet all dies in seinem zweistündigen Epos.
Zuerst hää?
Die erste Stunde von «Grain» verwirrt. Die Dialoge sind (nicht zuletzt aufgrund des unnatürlich wirkenden Englisch der Schauspieler) merkwürdig, Gesehenes wird ausgesprochen, als ob auf die Bildkraft nicht vertraut werden würde. Auch ist «Grain» von Beginn an schlecht etabliert. So wird kaum klar, nach welchen Regeln die filmische Welt funktioniert, was eigentlich ganz genau gesucht wird und was passiert, wenn dieses nicht gefunden wird. Die Figuren wirken dadurch blass und unmotiviert, was auch an der allgemeinen Blässe der Charaktere liegt. Erin reist also nach einigen merkwürdigen und erntelosen Aufeinandertreffen anderer Figuren in die Deadlands, um den verstossenen Wissenschaftler zu finden und ihn nach seinem Weltrettungsplan zu fragen – auch hier wirkt die ganze Technologie undurchdacht. So wirft Alice (Christina Flutur) mit einem schicken Kopfstück bedeckt einen Stein durch die mit unter Hochstrom stehenden Türmen bestückte Grenze, worauf die beiden Wissenschaftler unversehrt überborden können – Wie das genau funktioniert, ist unklar.
Dann hui!
Was dann in den Deadlands passiert, sei hier nicht verraten. Nur so viel: Nachdem Erin den Wissenschaftler findet und ihm in einer Szene, die stark an diejenige am Ende vom ersten Teil der «Lord Of The Rings»-Trilogie erinnert (genau, die, in der sich Sam beim Dreh eine Scherbe durch seinen Silikon-Hobbitfuss getreten hat), anschliesst, wandelt sich «Grain» immer mehr in eine philosophische und selbstreflexive Bildwucht, die den Zuschauer in seinen Sog zieht. Es wird klar, dass Kaplanoğlu bewusst jegliche Sci-Fi-Technologie minim gestaltet, um den philosophischen Aspekten die Bühne frei zu lassen. «Grain» ist ihm zufolge ein zeit- und raumloser Film, weswegen alle Charaktere das auferzwungene Englisch als Einheitssprache sprechen und weswegen der Film in schwarz-weiss geschossen wurde. Plötzlich wird unklar, wo die beiden Protagonisten genau umherwandeln und wer sie überhaupt sind. Doch das kommt auch gar nicht mehr weiter gross drauf an.

Ein Hauch Tarkovsky
Der Zuschauer wabert in den poetischen Bildern einer postapokalyptischen Welt voller Symbolen, in der tatsächlich – wie vom Regisseur gewollt – jegliches Zeit- und Raumgefühl ohne grosse Kino-Trickserei verloren geht. So entfaltet der Film einen Sog, der stark an Tarkovskys Meisterwerk «Stalker» erinnert. Hier wandern ebenfalls zwei Männer in die “Zone”, um den Raum zu finden, in denen alle ihre Wünsche in Erfüllung gehen sollten. Wer bei «Grain» aus dem Kino kommt, weiss dann selbst nicht so recht, wo, wie, was und warum er oder sie selbst ist. Was Kaplanoğlu mit seinem Film genau sagen will, oder was er Neues zu sagen hat, als das, was wir schon von Umweltpolitikern und Philosophen wissen, bleibt aber im Verborgenen.
Filmstart: 4. Mai 2018 / Regie: Semih Kaplanoğlu / Cast: Jean-Marc Barr, Ermin Bravo, Grigoriy Bobrygin, Cristina Flutur
Bilder- und Trailerquelle: Trigon Film.
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