Guillermo del Toro, Mark Gustafson und Netflix präsentieren schon die zweite «Pinocchio»-Verfilmung im laufenden Jahr. Nicht alles daran mag funktionieren, doch der Stop-Motion-Animationsfilm ist dennoch eine Freude – nicht zuletzt, weil er dem Publikum viel über del Toros gegenwärtigen Karriereabschnitt verraten kann.
Wenn ein Film den Best-Picture-Oscar gewinnt, dann bedeutet das für sein*e Regisseur*in vor allem eines: kreative Carte blanche – mehr oder weniger uneinegschränkte Freiheit bei der Wahl des nächsten Projekts. Nur wenige Wochen, nachdem «The King’s Speech» (2010) die Academy-Awards-Zeremonie als grosser Sieger verliess, nahm Tom Hooper Verhandlungen auf, um das Kult-Musical «Les Misérables» neu fürs Kino aufzulegen. Steve McQueen, von Haus aus Experimental- und Arthouse-Filmemacher, nutzte den Oscar-Ruhm von «12 Years a Slave» (2013), um zusammen mit Schriftstellerin Gillian Flynn («Gone Girl») den Heist-Thriller «Widows» (2018) zu inszenieren.
Eine besonders spannende Oscar-Afterparty feiert seit nunmehr fast fünf Jahren der mexikanische Regisseur Guillermo del Toro. 2018 gewann seine Monster-Romanze «The Shape of Water» (2017) das begehrte Goldmännchen für den besten Film und feierte damit einen Mainstream-Erfolg, der im Angesicht von del Toros vorherigem Leistungsausweis – überwiegend Genrekost wie «Cronos» (1992), «Hellboy» (2004), «Pacific Rim» (2013) und «Crimson Peak» (2015) – nicht unbedingt als logische Karriere-Konsequenz zu werten war.
2021 drehte er mit «Nightmare Alley» eine Neuinterpretation des gleichnamigen Noir-Romans von William Lindsay Gresham, der bereits 1947 ein erstes Mal verfilmt worden war. Zusammen mit Netflix und DreamWorks werkelte er an diversen Spin-offs der von ihm ins Leben gerufenen familienfreundlichen Animations-Fantasyserie «Tales of Arcadia». Unlängst kuratierte er, ebenfalls in Zusammenarbeit mit dem Streaming-Riesen, die Horror-Anthologie «Guillermo del Toro’s Cabinet of Curiosities». Ein durchschlagender kritischer oder finanzieller Erfolg wie «The Shape of Water», oder gar ein Meisterwerk wie «El laberinto del fauno» (2006), war bislang nicht dabei – doch die Zeichen sind eindeutig: Del Toro kostet seine Oscarfreiheiten so richtig aus und scheint ganz sich dem Realisieren von Herzensangelegenheiten verschrieben zu haben.
«Ein durchschlagender kritischer oder finanzieller Erfolg wie ‹The Shape of Water›, oder gar ein Meisterwerk wie ‹El laberinto del fauno›, war bislang nicht dabei – doch die Zeichen sind eindeutig: Del Toro kostet seine Oscarfreiheiten so richtig aus und scheint ganz sich dem Realisieren von Herzensangelegenheiten verschrieben zu haben.»
In diesen Kontext reiht sich auch sein neuestes Projekt, der Stop-Motion-Animationsfilm «Pinocchio», nahtlos ein. Seine eigene Version des Stoffs von Carlo Collodi zu kreieren, das liess del Toro schon 2008 verlauten, war ein lang gehegter Traum; die Disney-Verfilmung von 1940 gehöre dank ihrer düsteren Horrorelemente zu jenen Kunstwerken, die sein eigenes Schaffen am nachhaltigsten prägten. Jahrelang musste del Toro um Finanzierung kämpfen; 2017 wurde die Produktion für tot erklärt. Ein gutes Jahr später – oder anders gesagt: einen Oscarerfolg später – war sie wieder zum Leben erwacht, Netflix-Geldern sei Dank.
Und auch was seine Stärken und Schwächen angeht, ist dieser «Pinocchio», der mit der Hilfe von Stop-Motion-Animator und Co-Regisseur Mark Gustafson («Fantastic Mr. Fox») sowie Co-Autor Patrick McHale («Over the Garden Wall») entstanden ist, eindeutig ein Werk aus del Toros Post-«The Shape of Water»-Ära. Wie schon in «Nightmare Alley» reiht der Grossmeister des Grotesken hier brillanten Einfall an brillanten Einfall, eindringliches Versatzstück an eindringliches Versatzstück – allerdings ohne dass sich diese Einzelteile je zu einem thematisch und emotional kohärenten Ganzen zusammenfügen. Dies demonstriert schon eine der auffälligsten Eigenheiten des Films: sein Schauplatz.
«Wie schon in ‹Nightmare Alley› reiht der Grossmeister des Grotesken hier brillanten Einfall an brillanten Einfall, eindringliches Versatzstück an eindringliches Versatzstück – allerdings ohne dass sich diese Einzelteile je zu einem thematisch und emotional kohärenten Ganzen zusammenfügen.»
Wo sich die meisten «Pinocchio»-Verfilmungen – von Ben Sharpsteen und Hamilton Luske (1940) über Roberto Benigni (2002) und Matteo Garrone (2019) bis hin zu Robert Zemeckis (2022) – zieren, Collodis Moralfabel über eine Holzpuppe auf Abwegen historisch zu verorten, gehen del Toro, Gustafson und McHale den umgekehrten Weg. Geppetto (grossartig gesprochen von Argus-Filch- und Walder-Frey-Darsteller David Bradley) ist nicht mehr ein tüddeliger alter Mann, der unter nicht näher definierten Umständen einen Sohn verloren hat und sich mal aus Einsamkeit, mal aus Jux, mal einfach so einen hölzernen Ersatzfilius schnitzt. Jetzt ist der ansonsten eher komödiantisch gepolte italienische Schreiner eine explizit tragische Figur: ein Vater, dessen geliebter Sohn Carlo (Gregory Mann) im Ersten Weltkrieg einem Bombenabwurf zum Opfer fiel, und der in den folgenden 20 Jahren dem Alkoholismus verfiel.
Vor dem Hintergrund des italienischen Faschismus unter Benito Mussolini (stimmlich verkörpert von SpongeBob-Sprecher Tom Kenny) verarbeitet Geppetto eines Nachts im blindwütigen Rausch eine Pinie, die aus Carlos Grab gewachsen ist, zu einer Puppe, die von der Magie eines gruseligen, engelshaften Geistes (Tilda Swinton) zum Leben erweckt und Pinocchio getauft wird. Die Grille Sebastian J. Cricket (Ewan McGregor), die sich zuvor in der Pinie eingenistet hatte, wird kurzerhand zum Gewissen des neugierigen Holzjungen erkoren – und hat, wie auch Geppetto, sogleich alle Hände voll zu tun: Denn Pinocchio passt mit seinem ausufernden Übermut gar nicht in die Wertvorstellungen der konservativ-faschistischen Dorfgemeinschaft. Da ist es auch verständlich, dass Pinocchio sich vom Versprechen des schmierigen Zirkusdirektors Volpe (Christoph Waltz), ihm zu Ruhm und Ehre verhelfen zu können, bezirzen und auf grosse Italien-Tournee verschleppen lässt.
Eine stringenter konstruierte Collodi-Adaption hätte aus dieser historischen Spezifität wohl viel thematisches Kapital schlagen können. Für del Toro, Gustafson und McHale ist sie aber nur eine von vielen originellen Ideen, die in rund zwei Stunden Film Platz finden müssen. Abgesehen von einer Handvoll abgedroschener Mussolini-Witze, einer Einführung von Pinocchios menschlichem Freund Candlewick («Stranger Things»-Jungstar Finn Wolfhard), die etwas eleganter als üblich daherkommt, und einer Umdeutung der buchstäblichen Vergnügungshölle «Pleasure Island» zu einer faschistischen Militärakademie, erweitert das Dreissigerjahre-Setting die Aussage- und Schlagkraft des «Pinocchio»-Stoffs entsprechend wenig.
Als handfestere Innovation in diesem «Pinocchio» erweist sich del Toros und McHales existenzphilosophisch angehauchte Interpretation von Pinocchios Wunsch, ein «richtiger Junge» zu werden. In den meisten Verfilmungen bedeutet das, dass die Holzpuppe zum Jungen aus Fleisch und Blut mutiert, quasi als fassbarer Endpunkt eines emotionalen Reifeprozesses. Das Live-Action-Remake von Robert Zemeckis schwurbelte irgendwas von Liebe und Aufopferung, zuckte letzten Endes aber vor allem mit den Schultern und schien darauf zu setzen, dass kein Publikumsmitglied Interesse daran haben würde, diesen Handlungsstrang aufgelöst zu sehen.
Für del Toro und McHale hingegen bedeutet Pinocchios «Unmenschlichkeit» in erster Linie Unsterblichkeit: Das knorrige kleine Baumwesen wird hier von Autos überfahren, in die Luft gesprengt und anderweitig malträtiert, springt aber stets – nach einem kurzen Aufenthalt in der Unterwelt, wo der Tod (Tilda Swinton zum Zweiten) regiert und die Skeletthasen (Tim Blake Nelson) Karten spielen – voller Energie ins Leben zurück. Das entspricht nicht nur del Toros und McHales makabrem Sinn für Humor; es dient schliesslich auch einem überaus berührenden Epilog, in dem der Film von der Notwendigkeit erzählt, den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren. Auch dieses Motiv wird mitunter etwas aus den Augen verloren, doch dank der starken und konzentrierten Schlusssequenz wirkt es um einiges ausgereifter als die Entscheidung, Pinocchio in Mussolinis Italien auszusetzen.
«So wie ‹Nightmare Alley› trotz seiner unförmigen, leicht inkongruenten Einzelteile letztlich durch seinen ehrlichen Glauben an die Kraft der eigenen Erzählung überzeugen konnte, so trumpft ‹Pinocchio› mit seinen Schauwerten auf.»
Doch so wie «Nightmare Alley» trotz seiner unförmigen, leicht inkongruenten Einzelteile letztlich durch seinen ehrlichen Glauben an die Kraft der eigenen Erzählung überzeugen konnte, so trumpft «Pinocchio» mit seinen Schauwerten auf. Inhaltlich mag hier nicht alles zueinanderpassen – eine Eigenschaft des episodischen Quellenmaterials, die del Toro und McHale nicht aus der Welt straffen konnten –, doch handwerklich ist der Film eine wahre Freude: Das Figuren- und Setdesign legt Wert auf haptisch wirkende Texturen, die Hintergründe bestehen aus wunderschönen Matte-Paintings, derweil die Stop-Motion-Bewegungsabläufe aufwendig, aber gerade künstlich genug sind, um fassbar und glaubwürdig handgemacht zu bleiben.
Guillermo del Toros «Pinocchio» ist also ein Film ganz im Sinne seines gegenwärtigen Karriereabschnitts: Es ist nicht alles perfekt, zahlreiche Elemente machen den Anschein, als hätte ihnen etwas mehr Feinschliff gut zu Gesicht gestanden – doch gleichzeitig ist das Ganze auch ein technisch beeindruckendes, emotional aufrichtiges Stück gelebte Kreativität, bei dem jeder Einstellung anzusehen ist, dass man es hier mit einer Herzensangelegenheit zu tun hat.
Und es scheint nicht so, als hätte del Toro vor, damit aufzuhören, sich seine filmemacherischen Träume zu erfüllen: Seit 2006 arbeitet er daran, die H.-P.-Lovecraft-Novelle «At the Mountains of Madness» auf die Leinwand zu bringen. 2017 wurde der Produktion der Stecker scheinbar endgültig gezogen. Doch jetzt wird gemunkelt, das Projekt liege wieder auf dem Tisch – als Stop-Motion-Animationsfilm.
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Kinostart Deutschschweiz: 24.11.2022 / Netflix-Start: 9.12.2022
Filmfakten: «Guillermo del Toro’s Pinocchio» / Regie: Guillermo del Toro, Mark Gustafson / Mit den Stimmen von: Gregory Mann, Ewan McGregor, David Bradley, Christoph Waltz, Tilda Swinton, Ron Perlman, Finn Wolfhard, Burn Gorman, John Turturro, Cate Blanchett, Tim Blake Nelson, Tom Kenny / USA, Mexiko / 117 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Cr: Netflix © 2022
Der neue «Pinocchio» von Guillermo del Toro und Mark Gustafson könnte thematisch stringenter sein, doch die kreativen Ideen und die herausragenden Schauwerte sind die Visionierung allemal wert.
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