Am 17. November 2022 wird Martin Scorsese 80 Jahre alt. Wir gratulieren herzlich und feiern einen ganz Grossen des amerikanischen Kinos, indem wir uns an unsere Lieblingsfilme von ihm erinnern.
Der Popkultur-Diskurs ist ein hartes Pflaster: Noch vor wenigen Jahren war Martin Scorsese hauptsächlich dafür bekannt, einer der gefeiertsten Hollywood-Regisseure der letzten 50 Jahre zu sein. Dann äusserte er sich 2019 kritisch zum Phänomen Superheldenfilm – «that’s not cinema» war der Satz, der hängen blieb – und eine neue Assoziation war geboren: Scorsese der elitäre Marvel-Hasser.
Dass er diese kontroverse Aussage seither äusserst eloquent präzisiert und an verschiedenen Stellen leidenschaftliche Plädoyers für Diversität in der Kinolandschaft und gegen die Content-isierung des künstlerischen Ausdrucks gehalten hat, ist in den einschlägigen Internet-Kreisen weitgehend auf taube Ohren gestossen. Ändern lässt sich das wohl nicht, doch Gegensteuer kann man geben – etwa in Form einer geburtstäglichen Liste, die Marvel (fast) gänzlich links liegen lässt und daran erinnert, wie viele grandiose Filme «Marty» der Welt schon geschenkt hat.
«Taxi Driver» (1976)
Dieser Film vereint so ziemlich alles, was das cinephile Herz begehrt: einen grossartigen Cast, berauschende Kameraarbeit, einen hypnotischen Score. Robert De Niro spielt Travis Bickle, einen Vietnam-Veteranen, dessen Einsamkeit und Ekel vor der Gesellschaft ihn ins Psychotische kippen lassen, mit einer Intensität, die unvergleichlich ist. An seiner Seite die damals erst zwölfjährige Jodie Foster als minderjährige Sexarbeiterin und Harvey Keitel als deren Zuhälter. Ob «Taxi Driver» denn nun ein Antikriegsfilm ist oder Drehbuchautor Paul Schraders autobiografisch inspiriertes Psychogramm eines vereinsamten Mannes, spielt letztlich gar keine Rolle: Der Film ist auch fast 50 Jahre später noch hochaktuell und zählt zu Recht zu den essenziellen Klassikern der modernen Filmkunst. / Verfügbar auf Netflix, UPC TV, Google Play, Rakuten, Apple TV sowie auf DVD und Blu-ray / Mirjam Schilliger
«The Irishman» (2019)
209 Minuten dauert Scorseses mitreissendes, berührendes, schwarzhumoriges, stellenweise erschütterndes Netflix-Debüt «The Irishman» von 2019 – und ist damit keine Minute zu lang. Die Buchadaption nach Charles Brandt, die unter sehr viel anderem eine spekulative Antwort auf die offiziell noch ungeklärte Frage liefert, wer 1975 den Gewerkschaftsführer Jimmy Hoffa ermordete, ist ein epischer Gang durch die US-Nachkriegsgeschichte mit all ihren Überlappungen von Politik, Wirtschaft und organisiertem Verbrechen – und obendrein auch noch eine zutiefst katholische Auseinandersetzung mit Schuld und Sühne. Scorsese ist besonders bekannt für seine ausladenden Gangsterfilme, in deren Unterwelt-Milieus es sich kopfvoran eintauchen lässt – und «The Irishman» ist ein eindrücklicher Beweis dafür, dass er diesen Modus auch in der Spätphase seiner Karriere noch beherrscht wie kaum jemand anderes. / Verfügbar auf Netflix, DVD und Blu-ray / Zur ausführlichen Kritik / Alan Mattli
«Goodfellas» (1990)
«Solange ich denken kann, wollte ich immer Gangster werden»: Scorseses «Goodfellas», basierend auf Nicholas Pileggis Sachbuch «Wiseguy» (1985), zählt zu den besten Werken der Filmgeschichte – und erhielt 1991 überraschenderweise nur einen Oscar. Das Epos über die verschworene Gemeinschaft der US-amerikanischen Cosa Nostra zeichnet ein realistisches, hartes Bild von drei Jahrzehnten in der Mafia. Von einem grossartigen Cast so kalt wie überzeugend gespielt, fesselt er das Publikum auch heute noch. Anders als die romantisch angehauchten Corleones in Francis Ford Coppolas «The Godfather» (1972) sind die Figuren in «Goodfellas» kalt, unsymphatisch und extrem brutal (wenn auch angeblich weniger brutal als es ihre realen Vorbilder waren); und am Ende winkt nichts als die triste Anonymität der amerikanischen Vorstadt: «I am an average nobody», beklagt Erzähler Henry Hill (Ray Liotta) am Schluss. «I get to live the rest of my life like a schnook». / Verfügbar auf Netflix, Amazon Prime, UPC TV, blue TV, Apple TV, Google Play, Rakuten, DVD und Blu-ray / Beate Steininger
«The Departed» (2006)
Nach «Goodfellas» (1990) widmete sich Scorsese 2006 erneut einem Stoff rund um mafiöse Machenschaften und Intrigen – und zwar in Form einer Neuverfilmung von «Infernal Affairs» (2002) aus Hongkong, inszeniert von Andrew Lau und Alan Mak. «The Departed», für den Scorsese seinen ersten und bislang einzigen (!) Oscar gewann, ist zweieinhalb Stunden geballte Spannung mit vielen Irrungen und Wirrungen, die auch immer wieder auf humorvolle Weise dafür sorgen, dass man die Augen nicht von der Leinwand lösen kann. Die Kirsche(n) auf der Torte sind Jack Nicholson als irischer Mafia-Boss und Leonardo DiCaprio und Matt Damon als Polizeikadetten (oder Maulwürfe?), deren Figuren dem Film einen unverkennbaren film Noir-Touch verleihen. / Verfügbar auf Netflix, blue TV, Sky, UPC TV, Apple TV sowie auf DVD und Blu-ray / Aline Schlunegger
«The King of Comedy» (1982)
Und da sage noch jemand, das Superheldenkino habe nichts mit Martin Scorsese am Hut: 2019 wagten sich DC und Todd Phillips mit «Joker» sogar an ein verkapptes Remake von Scorseses vielleicht düsterster Satire: «The King of Comedy» erzählt die Geschichte vom Möchtegern Stand-up-Comedian Rupert Pupkin (Robert De Niro), der alles daransetzt, in der Sendung von Comedy-Legende Jerry Langford (Comedy-Legende Jerry Lewis, ausnahmsweise ganz ernsthaft) aufzutreten – und dabei auch vor kriminellen Mitteln nicht zurückschreckt. Doch die brillant unbequeme Mischung aus schwarzer Komödie und Stalker-Thriller inspirierte nicht nur Todd Phillips: Manch anderer Film über die amerikanische Medienlandschaft und ihre sensationslustige Celebrity-Obsession steht in irgendeiner Form in der Schuld von «The King of Comedy». Rupert Pupkins Einschätzung «I know, Jerry, that you are as human as the rest of us, if not more so» allein ist ein Zitat für die Ewigkeit. / Verfügbar auf Rakuten, Apple TV, Google Play sowie auf DVD und Blu-ray / Alan Mattli
«Hugo» (2011)
An Filmen, welche die «Magie des Kinos™» zelebrieren, mangelt es weiss Gott nicht. Jetzt gerade bringt Regisseur Sam Mendes («Skyfall») mit «Empire of Light» ein weiteres Werk über die Liebe zum Lichtspiel in die Poleposition für die Oscars. Dass es Hollywood mag, wenn sich Filme mit dem Medium Film befassen, ist hinlänglich bekannt. Schon vor gut zehn Jahren ging Martin Scorsese mit «Hugo» gleich mit elf Nominationen ins Oscar-Rennen, musste sich schliesslich jedoch der anderen Liebeserklärung ans Kino, Michel Hazanavicius‘ «The Artist», geschlagen geben. Dass «Hugo» dennoch aus Scorseses Werk heraussticht – und auch aus der Masse an Filmen über das Filmemachen – liegt daran, dass Scorsese nicht nur überraschend familienfreundlich erzählt, sondern seinen filmhistorischen Exkurs auch in den Hintergrund rückt. Die Verfilmung der Geschichte eines kleinen Jungen, der in einem französischen Bahnhof wohnt und dort die Uhren repariert, ist ein charmantes, nostalgisches und vor allem bildgewaltiges Werk. / Verfügbar auf blue TV, Sky, Google Play, Rakuten, Apple TV, DVD und Blu-ray / Olivier Samter
«Casino» (1995)
Auf der Höhe seines Könnens: Mit «Casino» zementiert Martin Scorsese seinen Ruf – und mit ihm fliegen Robert De Niro, Sharon Stone und Joe Pesci ganz weit oben am Filmhimmel. Das Siebzigerjahre-Las-Vegas-Casino-Epos ist ein Meisterwerk aus atmosphärischer Inszenierung, erstklassigem Storytelling, magischem Soundtrack, grandiosem Schauspiel und nicht zuletzt einem unvergesslich coolen Look in Sachen Dekor und Kostüm. Dabei sind die an die 70 Anzüge von Sam «Ace» Rothstein (De Niro), an sich schon ein grosses Highlight des 1995 erschaffenen dritten Teils von Scorseses Mafia-Trilogie (siehe Video). Von einer atemberaubenden Titelsequenz über ein fast schon dokumentarischen Casino-Kaleidoskop bis hin zur Szene, wo sich Sam in einer wunderschönen Slow-Motion-Szene in Ginger (Stone) verliebt, ist «Casino» ein Film, den, wenn man ihn einmal gesehen hat, nie wieder vergisst. / Verfügbar auf DVD und Blu-ray / Simon Keller
«Shutter Island» (2010)
Basierend auf Dennis Lehanes gleichnamigem Roman, inszeniert Scorsese mit «Shutter Island» einen bildgewaltigen Thriller, in dem zwischen Erinnerung und Wahn das blanke Grauen lauert. In den Fünfzigerahren wird auf der kleinen Insel Shutter Island, in einem Sanatorium für psychisch kranke Verbrecher, eine Patientin vermisst. US-Marshal Edward «Teddy» Daniels (Leonardo DiCaprio) soll Klarheit schaffen: Wie ist die Kindsmörderin auf einer so kleinen Fläche verschwunden und was verbirgt sich hinter all den Andeutungen, den Botschaften und den Rätseln, welche die ganze Insel umspannen? Ein wahres Meisterwerk, so verworren und doch klug konzipiert, dass man nach und nach beginnt, die eigene Wahrnehmung der Dinge anzuzweifeln und versucht, gemeinsam mit Teddy zu begreifen, was wirklich vor sich geht. Scorsese führt in diesem Film ein herausragendes Ensemble – an DiCaprios Seite spielen Mark Ruffalo, Ben Kingsley, Michelle Williams, Max von Sydow und Emily Mortimer – durch ein düsteres und brillantes Stück Kino. Die Abstraktion, mit der hier gespielt wird, zeichnet ein erstaunliches Bild der menschlichen Grausamkeit, von Abgründen, die so bizarr und doch so ehrlich sind, das es wehtut. / Verfügbar auf Netflix, UPC TV, blue TV, Google Play, Rakuten, Apple TV, Sky, Kino on Demand, DVD und Blu-ray / Delfina Thon
«After Hours» (1985)
Martin Scorsese ist ein Synonym für New York: Der «Big Apple», seine Heimatstadt, gehört zu ihm wie Robert De Niro zu seinen Mafiafilmen. Doch wenn von den essenziellen New-York-Werken in seinem Schaffen die Rede ist, geht neben «Mean Streets» (1973), «Taxi Driver» (1976), «New York, New York» (1977), «The Age of Innocence» (1993) und «Gangs of New York» (2002) eine wunderbare Kuriosität leider allzu oft vergessen: die herrlich fiese schwarze Thrillerkomödie «After Hours» von 1985. Hier schickt Scorsese einen notgeilen Yuppie (Griffin Dunne) auf eine absurde Odyssee durch das nächtliche New York, welches wild entschlossen zu sein scheint, ihn mithilfe allerlei schräger Vögel und unwahrscheinlicher Missgeschicke an der Heimkehr zu hindern. Augenzwinkernde New-York-Ode und «The Wolf of Wall Street»-Satire-Vorstudie in einem – was will man mehr? / Verfügbar auf Apple TV, Google Play, DVD und Blu-ray / Alan Mattli
«Silence» (2016)
Der emsige Output von US-Produktionsfirmen, die sich auf «faith-based» Entertainment spezialisiert haben und damit das durchschnittliche Fox-News-Zielpublikum an den Kinokassen abzuholen versuchen, hat unter anderem dazu geführt, dass es schwierig geworden ist, das Subgenre «christliches Kino» ernst zu nehmen. Entsprechend mau war die Reaktion auf das Scorseses «Silence» – ein Drama über zwei jesuitische Missionare im Japan des 17. Jahrhunderts –, gerade in den europäischen Medien; die «NZZ» sprach gar von Scorseses «Tiefpunkt». Doch wer bereit ist, sich auf eine offenherzige, unverhohlen katholisch geprägte (und obendrein auch noch grandios fotografierte) Auseinandersetzung mit den Tücken des religiösen Glaubens und dem unbarmherzigen Schweigen Gottes einzulassen, ist hier an der richtigen Adresse. «Silence» ist Scorseses Verneigung in Richtung Carl Theodor Dreyer und Ingmar Bergman – und nicht zuletzt auch ein Beweis für sein grossartige Schauspielführung: Besser als hier war Andrew Garfield noch nie. / Verfügbar auf Google Play, Apple TV, Sky sowie auf DVD und Blu-ray / Alan Mattli
The Film Foundation und das World Cinema Project
Scorsese ist nicht nur einer besten Filmemacher aller Zeiten; er ist auch einer der führenden Cinephilen unserer Zeit. Sein Wissen über die Geschichte des Kinos ist enzyklopädisch – siehe seine wunderbaren Dokumentarfilme «A Personal Journey Through American Movies» (1995) und «Il mio viaggio in Italia» (1999) –, sein Einsatz für die Erhaltung alter Filme und die Verbreitung unbekannter Perlen ebenso unermüdlich wie bemerkenswert. Zu genau diesem Zweck legte er 1990 den Grundstein für die Non-Profit-Organisation The Film Foundation, die sich der Restaurierung und Zurschaustellung von gefährdetem Filmmaterial verschrieben hat. Schätzungen zufolge sind nämlich mehr als die Hälfte aller vor 1950 produzierten Filme verloren gegangen; von den Produktionen vor 1929 haben wohl nur rund zehn Prozent die Zeit überdauert. Dem setzt die Film Foundation Fundraising, Schulungen und Restaurations-Infrastruktur entgegen; seit 1990 ist es ihr und ihren Partnerorganisationen gelungen, mehr als 900 Filme wieder instand zu setzen. Nach demselben Prinzip funktioniert das World Cinema Project, das Scorsese 2007 ins Leben rief: Hier liegt der Fokus auf dem Weltkino, insbesondere auf Ländern und Regionen, in denen sich die Filmerhaltung aus verschiedenen Gründen schwierig gestaltet. Zusammen mit dem DVD- und Blu-ray-Vertreib The Criterion Collection ist das World Cinema Project zudem darum bemüht, das internationale Filmschaffen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen – eine Initiative, die in den letzten 15 Jahren vor allem das Profil von asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Klassikern stärken konnte. Das Kino zu lieben, heisst, die Vielfalt zu lieben – Scorsese macht es vor. / Die DVDs World Cinema Project 1 und World Cinema Project 2 sind bei trigon-film mit deutschen und französischen Untertiteln erhältlich. / Alan Mattli
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Titelbild: «Hugo» (2011), © Paramount Pictures
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