Bis in die 1970er Jahre wurden in der Schweiz Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen in katholische Waisenhäuser und Klosterschulen gesteckt, in denen körperliche Züchtigung und Demütigung an der Tagesordnung waren. In «Hexenkinder» arbeitet Edwin Beeler diese Geschichte nicht nur anhand von Zeitzeugen-Interviews auf, sondern kommt dank Einsichten in Archive zum provokativen Schluss, dass Kindesmissbrauch hierzulande Tradition hat.
Einem bettnässenden Kleinkind wird verboten, abends ausser Brot etwas zu sich zu nehmen, bevor es in der Nacht in eine Badewanne gestellt und mit kaltem Wasser abgeduscht wird. Ein renitenter Junge wird von einer Nonne an den Knöcheln gepackt und kopfüber in einen Eimer Dreckwasser getaucht, bis ihm schwarz vor Augen wird. Ein Schuljahr, das man mit nur wenigen Stockhieben auf die Hand hinter sich bringt, gilt als Erfolg.
Das war der Alltag von MarieLies Birchler, Sergio Devecchi, Willy Mischler, Pedro Raas, Annemarie Iten-Kälin und vielen mehr, nachdem sie um 1960 in den streng religiösen Heimen der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz – den Ingenbohler Schwestern – «zwangsversorgt» wurden. Die Gründe für diesen Schritt waren vielfältig, bisweilen rechtlich dubios: Nicht alle Kinder hatten ihre Eltern verloren und waren auf staatlich ernannte Vormunde angewiesen; viele waren lediglich verhaltensauffällig oder stammten aus «asozialem» Hause – eine Kategorie, zu der gerne auch alleinerziehende Mütter gezählt wurden.
«In eindringlichen, mitunter erschütternden Interviews legen Birchler, Devecchi und ihre Leidensgenoss*innen dar, wie sie der religiöse Eifer des klerikalen Erziehungspersonals um eine friedliche Kindheit brachte – und wie diese Missstände von der Gutgläubigkeit und der Laissez-faire-Haltung der Ämter aufrechterhalten wurden.»
In eindringlichen, mitunter erschütternden Interviews legen Birchler, Devecchi und ihre Leidensgenoss*innen dar, wie sie der religiöse Eifer des klerikalen Erziehungspersonals um eine friedliche Kindheit brachte – und wie diese Missstände von der Gutgläubigkeit und der Laissez-faire-Haltung der Ämter aufrechterhalten wurden. Gelangte einmal eine offizielle Beschwerde an eine verantwortliche Stelle, hatte das allerhöchstens die Versetzung der missbrauchenden Ordensschwester zur Folge. Das belegen die Akten, die Regisseur Edwin Beeler («Arme Seelen») gemeinsam mit den Betroffenen in diversen kantonalen Archiven konsultiert.
Es ist kein erbauliches Bild des eigenen Landes, das sich dem Schweizer Publikum hier bietet, auch weil «Hexenkinder» nicht davor Halt macht, den Fall des Ingenbohler Netzwerks in einen umfassenden Kontext zu stellen. Denn für Beeler, der sich in seinem Schaffen schon mit dem Sonderbundskrieg («Grenzgänge», «Der vergessene Krieg») und, im Rahmen der Doku-Anthologie «L’histoire c’est moi» (2004), mit Nazis in der Schweiz auseinandersetzte, ist das Schicksal seiner Hauptfiguren nicht nur eine bedauernswerte Episode in der finsteren Vergangenheit. Es ist das Resultat eines jahrhundertelangen Vorspiels, derweil sein Nachspiel bis heute andauert.
Die Gespräche, die das Rückgrat des Films bilden, sind neben Leidensbericht nämlich auch Bestandsaufnahme: Wie hat die Kindheit unter der eisernen Faust der Nonnen das weitere Leben beeinflusst? MarieLies Birchler erzählt von ihren Depressionen, ihrem späteren Suizidversuch, ihrer Reue darüber, nie Mutter geworden zu sein. Willy Mischler besucht seinen Bruder Michel, der nach dem Heimleben dem Alkohol verfiel und heute betreutes Wohnen in Anspruch nimmt – fernab der Barmherzigen Schwestern, die übrigens eine Teilnahme an Beelers Filmprojekt ablehnten.
«Gleichzeitig interpretiert ‹Hexenkinder› die verstörenden Praktiken des Ordens als eine nationale und religiöse Pathologie – als ein unheiliges Zusammenspiel von katholischem Dogma und gesellschaftlicher Bigotterie, das seit der Frühzeit der Eidgenossenschaft existiert.»
Gleichzeitig interpretiert «Hexenkinder» die verstörenden Praktiken des Ordens als eine nationale und religiöse Pathologie – als ein unheiliges Zusammenspiel von katholischem Dogma und gesellschaftlicher Bigotterie, das seit der Frühzeit der Eidgenossenschaft existiert. Zu diesem Zweck taucht Beeler tiefer ins Archiv ein und fördert Handschriften aus dem 17. Jahrhundert zutage, auf denen in trockener Chronistensprache festgehalten ist, wie aufmüpfige, fantasievolle oder unbelehrbare Kinder der Hexerei bezichtigt, gefoltert und manchmal sogar hingerichtet wurden. Ein missgünstiger Nachbar genügte, um ein Kind dem Klerus und dem Hexenhammer auszuliefern. Man würde sich wünschen, Beeler hätte diesem Aspekt seines Films mehr Zeit eingeräumt. Denn obwohl seine Diagnose einer katholischen Kirche, die noch im 20. Jahrhundert ihren traditionellen inquisitorischen Impulsen frönte, historisch vertretbar ist, wirkt ihre hastige Inszenierung so, als wolle sich «Hexenkinder» mit seinen gewagteren Thesen möglichst rasch aus der Affäre ziehen.
«Wie zuletzt ‹African Mirror› widersetzt sich auch ‹Hexenkinder› dem romantisierten und banalisierten Bild der nationalen Vergangenheit, das einem in Werken wie ‹Die Kinder vom Napf› oder ‹Alpsegen› aufgetischt wird – frei nach Brecht: Glotzt nicht so patriotisch!»
Dabei trägt Beeler gerade mit diesem Ausblick zu einer Bewegung im Schweizer Filmschaffen bei, die auch mehr als 20 Jahre nach dem wegweisenden «Grüningers Fall» (1997) noch in den Kinderschuhen zu stecken scheint: die dokumentarische Entmystifizierung des helvetischen Selbstverständnisses. Wie zuletzt «African Mirror» (2019) widersetzt sich auch «Hexenkinder» dem romantisierten und banalisierten Bild der nationalen Vergangenheit, das einem in Werken wie «Die Kinder vom Napf» (2011) oder «Alpsegen» (2012) aufgetischt wird – frei nach Brecht: Glotzt nicht so patriotisch!
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Kinostart Deutschschweiz: 17.9.2020
Filmfakten: «Hexenkinder» / Regie: Edwin Beeler / Mit: MarieLies Birchler, Sergio Devecchi, Willy Mischler, Annemarie Iten-Kälin / Schweiz / 96 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © Calypso Film AG, Edwin Beeler
«Hexenkinder» rollt ein unbequemes Kapitel Schweizer Geschichte auf und stellt es in einen spannenden historischen Kontext. Letzteres hätte aber gerne mehr Platz benaspruchen dürfen.
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