Am Sonntag, 4. Oktober, ist das 16. Zurich Film Festival nach zehn Tagen und 68’000 Besucher*innen zu Ende gegangen. Maximum Cinema blickt zurück und präsentiert seine Lieblingsfilme aus dem Programm.
«Nomadland» von Chloé Zhao
Die Welt ist unvorstellbar schön in Chloé Zhaos erster Regiearbeit seit «The Rider» (2017): Wüstensonnenuntergänge, plätschernde Flüsschen, majestätische Täler, eindrucksvolle Bergpanoramen – das alles und noch mehr fangen Zhao und Kameramann Joshua James Richards in atemberaubenden Bildern ein, die bisweilen an die entrückt schwebenden Kamerafahrten von Terrence Malick erinnern. Doch das Naturparadies ist nicht perfekt: «Nomadland» handelt von einer modernen Nomadin (Frances McDormand), die aus wirtschaftlichen Gründen in ihrem Kleinlaster wohnt und damit durch den Westen der USA tingelt, um sich mit Gelegenheitsjobs finanziell über Wasser zu halten. Dabei trifft sie auf zahlreiche Menschen mit dem gleichen Lebensstil – wie schon in «The Rider» spielen auch hier wieder diverse Laiendarsteller*innen überhöhte Versionen ihrer selbst –, woraus Zhao eine faszinierende, tief bewegende Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilm ableitet: ein grandioses, trauriges, hoffnungsvolles Porträt vom Leben und Überleben im real existierenden US-Kapitalismus. / Alan Mattli / CH-Kinostart: 4.2.2021
«Gagarine» von Fanny Liatard und Jérémy Trouilh
Youri (Alséni Bathily) wächst in der französischen Sozialbausiedlung «Gagarine» auf. Praktisch sich selbst überlassen von seinen Eltern, findet er im Wohnblock Freund*innen und eine Gemeinschaft. Inspiriert vom Namensgeber der Siedlung, dem Kosmonauten Yuri Gagarine, ist Youri fasziniert von Raumschiffen und dem All. Als die Siedlung abgerissen werden soll, unternimmt er alles, um «Gagarine» zu erhalten. Der Film braucht zwar eine Weile, bis er in Fahrt kommt, belohnt aber mit einem absolut wunderbaren zweiten Teil. Regisseurin Fanny Liatard und Regisseur Jérémy Trouilh fangen die Bedeutung von Heimat und Zugehörigkeit ein und zeichnen einfühlsam das Portrait eines Jungen, der als letzter verzweifelter Versuch auf seine Träume zurückgreift, um der harten Wirklichkeit die Stirn zu bieten. / Nicoletta Steiger / CH-Kinostart: 18.11.2020 (Romandie)
«80.000 Schnitzel» von Hannah Schweier
Eine Biologin versucht, den serbelnden Hof und das Gasthaus der Grossmutter zu retten. Was nach einem Heimatfilm aus dem Lehrbuch klingt, ist in Wahrheit ein geschickt inszenierter Dokumentarfilm, der gekonnt zwischen nüchterner Beobachtung und essayistischer Erzählung wechselt. Hannah Schweier begleitet nicht nur ihre Schwester und ihre Grossmutter während eines Jahres, sie übernimmt auch selber eine aktive Rolle, analysiert und dokumentiert ihre Beziehungen zu den beiden Frauen und schafft so eine Nähe und Intimität, die diese Geschichte über ihre simple Prämisse hinausheben kann. «80.000 Schnitzel» mag uns zwar rund 79’965 der im Titel versprochenen Fleischplätzli schuldig bleiben, dafür ist dieses Dokumentarfilmdebüt ein berührendes und anregendes Werk über verlorene Träume und verpasste Gelegenheiten. / Olivier Samter
«Supernova» von Harry Macqueen
«Supernova» von Harry Macqueen erzählt unaufgeregt vom Abschied eines homosexuellen Liebespärchens voneinander aufgrund einsetzender Demenz des einen Partners. Das Drama überzeugt durch eine fabulöse und innige Darstellung von Stanley Tucci als Tusker und Colin Firth als Sam und der unprätentiösen Inszenierung dieses würdevollen Abschiednehmens voneinander, das kein Auge trocken lässt. Die Geschichte wird eingedeckt mit den wunderbaren Klängen des Musikers Keaton Henson. / Dafina Abazi
«Never Rarely Sometimes Always» von Eliza Hittman
Eliza Hittman widmet sich in ihrer schonungslos direkten Art, die sie bereits in «Beach Rats» (2017) an den Tag legte, dem Tabuthema Abtreibung. In «Never Rarely Sometimes Always» kämpft eine 17-Jährige (grossartig: Sidney Flanigan) darum, sicher ihre Schwangerschaft abbrechen zu können – was Hittman dazu dient, eine erschütternde Geschichte über den ganz alltäglichen Frauenhass zu erzählen, von dem die gesellschaftliche Stigmatisierung der Abtreibung lediglich ein besonders gefährliches Symptom ist. Doch der intensive, schnörkellos vorgetragene Film ist nicht nur ein gewissenhaftes Lehrstück über ein schwieriges Thema, sondern auch ein berührendes, oft auch ernüchterndes Coming-of-Age-Drama darüber, was es bedeutet, als junge Frau erwachsen zu werden. / Alan Mattli / Zur ausführlichen Kritik / CH-Kinostart: 8.10.2020
«The Father» von Florian Zeller
Anthony (Anthony Hopkins) ist ein 80-jähriger Mann, der trotz den Bemühungen seiner Tochter Anne (Olivia Colman) Hilfe verweigert. Die von Anne organisierten Pflegerinnen vergrault er, und ein Heim kommt gar nicht in Frage. Plötzlich beginnen aber Dinge in seiner Wohnung zu verschwinden, Fremde, die behaupten, ihn zu kennen, stehen unangekündigt in seinem Wohnzimmer, und Anne verstrickt sich zunehmend in Widersprüchen. Was sich nach Mystery-Horror anhört, ist ein äusserst raffinierter Film über Alzheimer. Erzählt aus Anthonys Perspektive, und inszeniert mit den Mitteln eines Thrillers, beschäftigt sich «The Father» mit dem ganz realen Horror, zunehmend sein Gedächtnis zu verlieren. Und mittendrin Anthony Hopkins, der mit dieser Rolle wieder einmal beweist, dass er ein absoluter Meister des Schauspiels ist. Garantiert ein Kandidat für eine «Best Actor»-Oscarnomination. / Nicoletta Steiger / CH-Kinostart: 25.2.2021
«Josep» von Aurel
Dass das Zurich Film Festival wenig Liebe für den Trickfilm übrig hat, ist längst kein Geheimnis mehr. Und doch ist es bedauerlich, dass es selbst in dem Jahr, in dem das Festival das französische Filmschaffen hochleben lässt, nicht für mehr als den einen Anstands-Animationsfilm (wenn man mal von der Kinderfilm-Kategorie absehen möchte) reicht. Immerhin ist La Grande Nation neben den USA und Japan eine der umtriebigsten und wichtigsten Trickfilmnationen der Welt. Doch eben – es bleibt bei diesem einen Animationsfilm, dem aufwühlenden Ani-Dok «Josep», das vom Leben und Überleben spanischer Bürgerkriegs-Geflüchteter, die 1939 im Süden Frankreichs Asyl suchen, erzählt. Pressezeichner und Filmregisseur Aurélien Froment (Nom de plume: Aurel) rückt dabei den Künstler Josep Bartolí ins Zentrum – einen geschickten Beobachter, der mit schnellem Strich den Alltag, aber auch das Elend in den französischen Internierungslagern dokumentierte. Bartolís Zeichnungen bilden die Grundlage dieses visuell bestechenden Ani-Doks, das unaufgeregt und mit reduzierter – ja bisweilen sogar nicht vorhandener – Animation von der Schönheit inmitten des Schreckens erzählt. / Olivier Samter
«There Is No Evil» von Mohammad Rasoulof
Kaum ein anderes Land auf der Welt macht so viel Gebrauch von der Todesstrafe wie der Iran. Regisseur Mohammad Rasoulof, der seit 2010 vom iranischen Regime schikaniert wird und im März dieses Jahres zu einem Jahr Gefängnis und einem zweijährigen Berufsverbot verurteilt wurde, illustriert im Kurzfilmzyklus «There Is No Evil», welchen Effekt diese staatliche Gewalt auf die Gesellschaft hat. Geduldig und mit messerscharfer erzählerischer und ästhetischer Präzision zeigt Rasoulof auf, wie die Todesstrafe, zusammen mit der kafkaesken iranischen Wehrpflicht, vielschichtige, zunehmend abstrakte Traumata verursacht und damit für einen schleichenden Zerfall des sozialen Gefüges verantwortlich ist. Ein stilles Meisterwerk über die Banalität des Bösen. / Alan Mattli / CH-Kinostart: 22.10.2020
«Exil» von Visar Morina
«Exil» von Visar Morina ist die beklemmende Geschichte des aus dem Kosovo stammenden Pharmaingenieurs Xhafer (Mišel Matičević), seinem deutsch-bürgerlichen Leben mit Ehefrau (Sandra Hüller) und Kindern und dem vermeintlichen Mobbing an seinem Arbeitsplatz, das er auf seine Abstammung zurückführt. Der doppelbödige Psychothriller überzeugt durch seine dichte Atmosphäre, die einem den Atem abklemmt. «Exil» ist eine Art deutsch-albanischer «The Killing of a Sacred Deer» (2017) und veräussert, formal streng gehalten, die Innenwelt des Protagonisten, der sich plötzlich alleine und verlassen in einer Welt wiederfindet, die gegen ihn steht. / Dafina Abazi
«King of the Cruise» von Sophie Dros
Ronald Reisinger ist ein schottischer Baron. Das erzählt der Rentner zumindest allen, denen er auf dem Luxuskreuzer begegnet – ob sie wollen oder nicht. Wenn Reisinger einmal angesetzt hat, ist er kaum mehr zu stoppen: Auf dem Everest war er bereits, ein afrikanischer Staat gehöre ihm, und auch als Gottheit wurde er bereits verehrt. Anstatt der Versuchung zu erliegen, Reisinger mit geschickten Kniffen als Lügenbaron zu überführen, lässt ihn Regisseurin Sophie Dros in «King of the Cruise» erzählen. Reisinger wiederum bedankt sich dafür, indem er die Filmemacherin immer wieder hinter die Fassade blicken lässt – und uns ein Lügenkonstrukt zeigt, dem vor allem eine Person erlegen ist: Reisinger selbst. Schade, dass sich «King of the Cruise» immer wieder in seiner zweite Erzählebene verliert, nämlich in der allzu plakativen Kritik an der Kreuzfahrtmegalomanie. Da stellte sich der Kurzfilm «All Inclusive» (2018) von Corina Schwingruber Ilić weitaus geschickter an. / Olivier Samter
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Bildquellen: Zurich Film Festival / «80.000 Schnitzel»: ZFF / Zum Goldenen Lamm Filmproduktion / Universal Schweiz
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