Letzte Woche liefen internationale Figure Skating-Stars um die Goldmedaille an den Olympischen Spielen in Südkorea, diese Woche skatet bei uns «I, Tonya» von Craig Gillespie ins Kino: Ein vielschichtiges Biopic über die Ausnahme-Eiskunstläuferin Tonya Harding, die in den 90er-Jahren Sportgeschichte schrieb und mit einem unschönen Skandal in den Medien auf dünnes Eis geriet. Grund genug, einen Blick in das Leben der bemerkenswerten Sportlerin zu werfen und euch vorab zu verraten, wie hoch «I, Tonya» in der Kinowelt scored.
Tonya und der Schlittschuh
Tonya Harding (Mckenna Grace als kleine Tonya) wächst in den 70ern in Portland, Oregon unter ärmlichen Verhältnissen auf. Schon als Vierjährige will das kleine, aber wilde Mädchen nirgendwo anders hin als auf die Eisfläche. LaVona Golden (Allison Janney), ihre Mutter, bringt sie zu Schlittschuhstunden und fungiert als ihr persönlicher, kettenrauchender Coach, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Bald schon outskatet sie alle anderen Mädchen auf der Eisfläche und erweckt das Interesse der ansässigen Coaches – und gewinnt bald wichtige Wettbewerbe wie das American Skate. Doch in einer Welt der graziösen Eisprinzessinnen ist Tonya eine Aussenseiterin. Mit ihrer eher kleinen und wuchtig athletischen Statur, dem ungezähmten blonden Haaren und den fuzzy Bangs, selbstgenähten Trikots und der kühlen Ausstrahlung gilt sie schnell als Punk on Ice. Dort glänzt sie mit ihrer Schnelligkeit und Kraft, ihre Routines unterlegt sie mit poppiger 90ies-Musik und Soundtracks von Batman oder Jurassic Park anstelle der gewöhnlichen Nussknacker-Sinfonien.
Auch wenn man als Zuschauer keine Ahnung vom Eiskunstlaufen hat, fesseln die Bilder der Figure Skating Perfomances in «I, Tonya». Der Kameramann ist hierfür selbst in die Schlittschuhe gestiegen und hat wahnsinnig fluide Bilder aufgefangen. Regisseur Craig Gillespie erzählt uns hier ein wenig über eine dieser Szenen:
Tonya und die zwischenmenschlichen Beziehungen
Ja, Tonya (Margot Robbie als Teenie und erwachsene Tonya) ist ein Badass-Girl, schon beinahe ein kleiner Tomboy. In ihrer Freizeit mag sie schnelle Autos und verliebt sich als Teenie in den gutaussehenden Jeff Gillooly (Sebastian Stan), welcher ihr später zum Verhängnis werden sollte. Die Beziehung mit Gillooly beschreibt Tonya als explosiv. Die beiden sind unzertrennlich, doch sollte Jeffs Faust einige Male in Tonyas Gesicht gelandet sein. Gewalttätigen Umgang kennt die Athletin schon von klein auf: Ihre Mutter sollte sie physisch und psychisch missbraucht haben. Sie ist es, die Tonya beschimpft, als nichtsnutzig bezeichnet, immer über ihren Eiskunstlauf urteilt – und sie so zu Extremleistungen anspornt. Dieser lieblose Umgang formt Tonya zur Kämpferin, die entgegen dem Glauben aller anderen mehr erreichen wird, als jemals jemand dachte.
Tonya und der Triple Axel
Bereits in jungen Jahren eine starke und ambitionierte Skaterin, doch weltweit bekannt wurde sie mit ihrem Triple Axel-Sprung. Der Triple Axel wird im Eiskunstlaufen als Meister-Sprung gehandelt, bei dem der Skater in Vorwährtsfahrt abspringt, in der Luft dreieinhalbmal Rotationen ablegt und auf dem anderen Fuss wieder landet. Die Herausforderung hierbei ist, dass beim Abspringen genug drill mitgenommen wird und diese Kraft bei der Landung wieder entladen wird, damit die Figur nicht in einem Sturz endet. Benannt ist der Sprung nach Axel Paulsen, einem norwegischen Eiskunstläufer, der diesen Sprung im Jahr 1882 vollendete. Und Tonya war die erste amerikanische Frau, die den Sprung aller Sprünge in competition fehlerfrei vollendete. Der Triple Axel ist mehr als ein Sprung – er ist eine Legende.
“A triple Axel turns physics into poetry”
Bis heute gibt es weltweit nur acht Frauen, die jemals einen Triple Axel in competition gesprungen sind und zwei, welche ihn aktuell ausführen können. Diese beiden bereiteten sich während des Drehs allerdings auf die Olympischen Spiele vor und konnten es nicht riskieren, als Stuntdouble für «I, Tonya» einzuspringen. So performten zwei andere professionelle Eiskunstläuferin alle im Film gezeigten Routines von Tonya, wobei deren Gesicht später per CGI durch das von Schauspielerin Margot Robbie ersetzt wurde (was teilweise ein wenig scary wirkt):
Für den Triple Axel war dann auch noch ein wenig weiteres CGI des Studios Eight VFX nötig, verrät Craig Gillespie. Die Szene ist brillant: In Slow Motion fängt die Kamera den legendären Sprung ein, der in die Geschichte ging.
Tonya und die Nancy Kerrigan-Affäre
“Eisfeld-Rowdy vs. Schlittschuhprinzessin” – so oder ähnlich lauteten die Schlagzeilen der amerikanischen Presse im Januar 1994. Zuvor ereignete sich ein Zwischenfall, der Tonyas Figure Skating-Karriere ein jähes Ende setzen wird. Ihre Hauptkonkurrentin, die gefeierte Eisprinzessin Nancy Kerrigan (Caitlin Carver), wird nach einer Trainingssession von einem Unbekannten angegriffen. Mit einem Polizei-Baton versucht er, ihr Bein zu brechen, um sie aus dem Rennen um die begehrten Plätze für das Team der Olympischen Spiele in Lillehammer zu nehmen. Kerrigan trägt nur leichte Blessuren davon, doch der Schock sitzt tief, die Presse läuft heiss und das FBI kommt dem Attentäter schnell auf die Spur. Shane Stant (Ricky Russert) ist von Derrick Smith (Anthony Reynolds) über Shawn (Paul Walter Hauser), dem besten Freund von Tonyas Noch-Ehemann Jeff, angestiftet worden, die Attakce zu verüben. Was darauf folgt, ist ein brisanter Spiessrutenlauf für Tonya: Von den Medien belagert und den Sportverbänden als unfair verpfiffen plädiert sie auf ihre Unschuld. Bis heute verneint Tonya, etwas von der Planung der Attacke gewusst zu haben, sondern gesteht lediglich, bei den folgenden Untersuchungen des FBIs Fakten verschwiegen zu haben, die sie nach der Attacke aus dem illusionierten (und im Film zum Schreien komischen) Shawn und ihrem Mann bekommen hat. Ob dies stimmt oder ob Tonya nicht doch die Fäden hinter all dem gezogen hat, weiss niemand. Umso besser für «I, Tonya», denn der Film erzählt dieses Event aus verschiedenen Perspektiven.
“There is no such thing as truth – Everyone has their own truth”
Wo wir beim ersten grossen Thema des Filmes wären. Wer sich ein Biopic anschaut, sollte dies immer im Wissen tun, das die Biografie dieser Person aus einer Perspektive erzählt wird, welche andere Sichtweisen zumeist aus dem Spiel lässt. Doch hier bricht «I, Tonya» die Regeln.
“Based on irony free, wildly contradictory, totally true interviews with Tonya Harding and Jeff Gillooly” lauten die Credits zu Beginn des Filmes. Und die beiden ehemaligen Lovebirds widersprechen sich in jeder Hinsicht. Im Mockumentary-Stil werden in den Film Interview-Szenen im 4:3-Format geschnitten, in denen Tonya, Jeff und ihre kaltschnäuzige Mutter mit Papagei auf der Schulter (“Mein bester Ehemann bis jetzt”) in aktueller Zeit ihren Senf zu den Ereignissen der 90er-Jahre abgeben. Tonya behauptet, von ihrer Mutter tyrannisiert und von ihrem Ex-Ehemann geschlagen worden zu sein – die beiden verneinen das vehement. Die unterschiedlichen Auffassungen der Protagonisten ist irrsinnig witzig inszeniert und wird durch das Brechen der sogenannten vierten Wand im Film energetisch umgesetzt. So sehen wir, wie Tonya als junge Frau Jeff bei einem explosiven Streit ins Visier nimmt und ihn knapp verfehlt, worauf sie sich zu der Kamera umdreht und dem Publikum versichert, dass sie dies ganz bestimmt nie getan hätte.
Wem sollen wir also glauben? «I, Tonya» belichtet verschiedenen Sichtweisen, lässt dabei aber dem Zuschauer die freie Wahl, wem oder was er glauben will – sei es zu ihrem privaten Leben oder dem Nancy Kerrigan-Skandal.
“America – They want someone to love, they want someone to hate”
Die Presse ist tagtäglich auf der Suche nach neuen, aufregenden Stories. Die Nancy Kerrigan-Affäre war ein gefundenes Fressen für sie – zum grossen Leid für die erst 23-jährige Tonya.
“Tonya wurde in der Presse immer als böse, hinterhältig und unfair dargestellt, während Nancy das von allen geliebte Opfer war. Mit «I, Tonya» wollen wir nicht die Meinung der Leute über Tonya ändern, aber zeigen, dass die Geschichte aus ihrer Perspektive ganz anders aussieht und es so etwas wie eine allgemeine Wahrheit nicht gibt”, meint Regisseur Gillespie. Somit ist «I, Tonya» ein Hommage, beinahe eine Wiedergutmachung für die von den Medien gequälte Ausnahme-Eiskunstläuferin, welches die turbulenten Ereignisse des Skandals nicht in schwarz-weiss zeichnet, sondern alle Facetten preisgibt und uns einen Einblick in die knallharte und eiskalte Welt der ambitionierten Hochleistungssportler gibt.
Die echte Nancy Kerrigan hat bereits ein Statement zu «I, Tonya» gegeben: Ihrer Meinung nach wird sie als Böse dargestellt, obwohl sie das eigentliche Opfer war. Tatsächlich hat niemand vom Filmteam nach ihrer Meinung gefragt, als das Drehbuch geschrieben wurde.
„They want someone to love, they want someone to hate“. Bei «I, Tonya» ist klar, dass sich das Filmteam von der Gut/Böse-Stigmatisierung entfernen, die Figur Tonya Harding entmystifizieren und viel mehr zeigen will, wer Tonya wirklich ist und mit welchen Menschen sie zu tun hatte.
Tonya und «I, Tonya»
Die australische Schauspielerin Margot Robbie, bekannt als Femme Fatale aus Scorseses «The Wolf Of Wall Street», mimt die rebellische Figure Skaterin in einer bemerkenswerten Wucht. Robbie hat ein Engelsgesicht und wird gerne für sexy Rollen besetzt. Dass sie nun ein “ungraziöses Mannesweib” spielt, lässt uns vorerst die Augenbrauen runzlen. Doch dies ist nicht die einzige Verschönerung der Realität. Laut Tonya wurde sie von ihrer Mutter LeVona Golden, brilliant gespielt von Allison Janney, missbraucht, um sie dort zu sehen, wo sie selbst nie hingekommen ist. Die Szenen im Film dazu sind nahe an der Schmerzensgrenze. «I, Tonya» ist durch den schnellen und aufregenden Schnitt kurzweilig, die Gags schlagen beim Publikum ein – doch die echte Tonya Harding musste sie ertragen. Somit ist «I, Tonya» die märchenhafte Geschichte eines Mädchens, das mit genug Willenskraft aus ihrer Vergangenheit flieht, die von häuslicher Gewalt geprägt war, nur um dann von den Medien zerfleischt zu werden.«I, Tonya» ist frisch, frech, unglaublich lustig und lebensbejahend. Wer aber recherchiert, erfährt, dass die Realität um einiges finsterer ausgesehen haben muss. Daneben ist die Inszenierung ein reiner Erfolg: Die Kostüme und Choreografien sehen beinahe 1:1 wie in den Originalvideos aus und versetzen uns in die freshen 90ies, Margot Robbie und Allison Janney sind beide für ihre bemerkenswert fierce Schauspielperformance für einen Oscar nominiert, ebenfalls darf sich Tatiana S. Riegel für ihr starkes Editing über eine Nomination freuen.
Zusätzlicher Fun Fact: Als Margot Robbie das Script gelesen hat, wusste sie gar nicht, dass Tonya Harding tatsächlich existiert hat und hielt alles für eine bizarre fiktionale Geschichte aus der Feder von Hollywood. Real und reel schrammen hart aneinander vorbei, was«I, Tonya» (Der Titel ist übrigens dem Roman “I, Claudius” angelehnt) so fesselnd macht.
Tonyas Endnoten
«I, Tonya» ist mehr als ein Biopic: Mit unvoreingenommener und vielschichtiger Erzählweise legt Craig Gillespie die rasante Geschichte mit viel schwarzem Humor über eine starke Frau in der Welt des Hochleistungssport dar, welche die Grenzen zwischen Realität, verschiedenen Perspektiven auf diese und Fiktion unerkenntlich verwischt und dank grossartiger Schauspieler und effektvollem Schnitt wahrlich auf den Podest unseres Filmhimmels steigt.
Endnote von Judge Lola Funk: Pures Gold.
Kinostart: 22. Februar 2018 / Regie: Craig Gillespie / Darsteller: Margot Robbie, Sebastian Stan, Allison Janney
Trailer- und Bildquellen: Ascot Elite.
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