Die 69. Ausgabe der Internationalen Filmfestspiele Berlin ging vom 7. bis 17. Februar über die Bühne. Maximum Cinema war vor Ort und hat das Neuste im Filmwesen unter die Lupe genommen. Insgesamt etwas stärker als im vorigen Jahr und mit grossem Frauenanteil, präsentierte das Festival unter anderem die Entdeckungen, die im Folgenden kurz vorgestellt werden sollen.
1. «Systemsprenger» («System Crasher»)
von Nora Fingscheidt (Deutschland, 2019)
«Systemsprenger», der einzige ausschliesslich in Deutschland produzierte Wettbewerbsbeitrag, war eines der ersten grossen Highlights des Festivals. Die Debatte anheizend, wie stark man verhaltensauffällige Kinder medikamentös behandeln soll, erzählt das Drama von der kleinen Benni (unglaublich intensiv gespielt von Helena Zengel), deren zarte Erscheinung in krassem Gegensatz zu ihrer Unberechenbarkeit steht. Als «radikal jede Regel brechend, Strukturen konsequent verweigernd und nach und nach durch alle Raster der Kinder- und Jugendhilfe fallend» werden Systemsprenger-Kinder bezeichnet – Kinder wie die neunjährige Benni. Vom Gewaltpotenzial des Mädchens überfordert, kann die Mutter sie nicht mehr bei sich hausen lassen, die ErzieherInnen und PsychologInnen sind trotz unermüdlicher Versuche ebenfalls komplett überfordert. Ein Stück Kino, das niemanden im Kinosaal kalt lassen wird.
2. «Gospod postoi, imeto i‘ e Petrunija» («God Exists, Her Name is Petrunya»)
von Teona Strugar Mitevska (Mazedonien / Bulgarien / Slowenien / Kroatien / Frankreich, 2019)
Der grösste Crowd-Pleaser des Festivals – ebenfalls ein Wettbewerbsbeitrag – stammt aus Mazedonien. Die 31-jährige, alleinstehende Petrunija (Zorica Nusheva) fischt am Dreikönigstag das Holzkreuz aus dem Fluss, welches kurz davor vom Priester in den Fluss geworfen wurde. Eigentlich ausschliesslich für Männer bestimmt, soll das Kreuz dem Finder ein Jahr lang Glück bringen. Nun hält aber eine Frau die Trophäe in der Hand und in die Fernsehkameras. Ein Skandal, den nicht nur den Priester, sondern auch ihre Familie, die Männer des Dorfes und die Polizei nicht kalt lässt. Die Komödie zeichnet auf unterhaltsame Weise das Bild eines Staates, der – um die Reporterin im Film zu zitieren – im Bezug auf Gleichberechtigung «im Mittelalter steckengeblieben ist».
3. «Shooting the Mafia»
von Kim Longinotto (Irland / USA 2019)
Hoch im Kurs stehen Filme über die Mafia. Von den 25 an der Berlinale gesehenen Filmen handelten drei von der berüchtigten italienischen Verbrecherorganisation. Einer der beiden stärksten Beiträge war dabei der Dokumentarfilm «Shooting the Mafia», ein Porträt über Letizia Battaglia, erste weibliche Fotojournalistin in Italien, die über die Jahre zahlreiche der Kriminalschauplätze fotografisch dokumentiert hat. Die heute 83-jährige lebte nach der frühen Scheidung gerne am Rande gesellschaftlicher Konventionen. Eine Frau, die nicht davor zurückschreckte, sich Feinde zu machen, und mit ihrer Art und Weise gerne aneckt. «Shooting the Mafia» schafft eine interessante Verbindung zwischen einem sehr intimen Porträt und der Geschichte der Schreckensherrschaft der Mafia in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
4. «La paranza dei bambini» («Piranhas»)
von Claudio Giovannesi (Italien, 2018)
Der zweite überzeugende Beitrag über die Mafia, «La paranza dei bambini» von Claudio Giovannesi beschreibt, wie Mafia-Strukturen auch heute noch das Leben in Italien dominieren. Die fiktionale Geschichte einer Gruppe 15-Jähriger, die auf ihren Mofas durch die Strassen Neapels kurven, dealen und mit Waffen hantieren, eskaliert nach und nach. Sie wissen genau, was sie machen müssen, um die Kontrolle in ihrem Viertel übernehmen zu können. Wie ihre Vorbilder wollen sie Geld machen und Designerklamotten und die neuesten Sneakers tragen. Mit Laiendarstellern gedreht, zeigt der Film – «Piranhas» lautet der internationale Titel – was an einem korrupten Ort mit einer Jugend ohne Zukunft passiert.
5. «Mid90s»
von Jonah Hill (USA, 2018)
Das Regiedebüt von Jonah Hill («Moneyball», «The Wolf of Wall Street») war die Überraschung am TIFF 2018. Der kleine, auf 16mm gedrehte und sehr kompakt daherkommende Film befördert das Publikum in die Mitte der 1990er-Jahre in L.A., in eine Gruppe von Jugendlichen, deren Gefühle, Ängste und Wünsche hinter einer derben, angriffslustigen und homophoben Sprache versteckt werden. Hill, bekannt geworden durch Buddy-Comedies wie «Knocked Up» oder «Superbad» erzählte, dass er diese Filme hiermit neu beleuchten und hinterfragen will. Die Geschichte nimmt seinen Lauf, als der 13-jährige Stevie in eine Gruppe ‚cooler‘ Skater-Jungs gerät, sehr zum Missfallen seines älteren Bruders und seiner alleinerziehenden Mutter.
Lobende Erwähnungen:
«Der Boden unter den Füssen» («The Ground Beneath My Feet»)
von Marie Kreutzer (Österreich, 2019)
Der österreichische Wettbewerbsbeitrag stammt von Marie Kreutzer («Die Vaterlosen», «Gruber geht») und besticht insbesondere durch die starke Darbietung von Hauptdarstellerin Valerie Pachner. Sie spielt eine zielstrebige junge Frau, deren Karriere aus der Bahn geworfen wird, als ihre ältere Schwester nach einem Selbstmordversuch in eine Klinik eingewiesen wird.
«Šavovi» («Stitches»)
von Miroslav Terzić (Serbien / Slowenien / Kroatien / Bosnien und Herzegowina, 2019)
Vor ein paar Jahren geriet in Serbien ein immenser Skandal an die Öffentlichkeit: Über Jahre haben Ärzte, zusammen mit Bestattern und Regierungsmitarbeitern, systematisch Kindesraub begangen, indem sie Eltern über den Tod ihres Neugeborenen informiert haben – die Kinder aber hinter verschlossenen Türen an andere Leute weiterverkauft haben. Dasselbe Schicksal hat Ana (stark: Snezana Bogdanovic) erfahren, die seit 18 Jahren versucht, das Grab ihres vermeintlich verstorbenen Kindes aufzuspüren. Ein subtiler, aber dennoch mächtiger Film über eine gebrochene Frau, die gegen Windmühlen zu kämpfen scheint, die Hoffnung aber nicht aufgeben kann.
«Divino Amor» («Divine Love»)
von Gabriel Mascaro (Brasilien / Uruguay / Chile / Dänemark / Norwegen / Schweden, 2019)
Brasilien im Jahr 2027: Joana (Dira Paes) ist als Beamtin für Scheidungen zuständig und gleichzeitig Mitglied der Sekte «Divino Amor», einer Abspaltung der evangelischen Christen. Den trennungswilligen Paaren will sie dort mit einer Art Körpertherapie zu einer Versöhnung verhelfen und übersteigt damit ihre Kompetenzen. Dabei kommt ihr auch ihr Kinderwunsch in die Quere. Mit einer unglaublich coolen Ästhetik, viel Liebe zum Detail und einem immersiven Soundtrack zieht einem der neuste Film von Gabriel Mascaro («Neon Bull») von Beginn weg in den Bann.
Alles in allem scheint die 69. Berlinale einen spannenden Filmjahrgang anzudeuten. Abwechslungsreiche Werke, viele von ihnen mit Frauen vor und hinter der Kamera, versprechen viele interessante Kinogänge im Jahr 2019.
Die nächste Ausgabe der Berlinale – die Jubiläumsausgabe zum 70. Geburtstag – und gleichwohl die erste mit Dieter Kosslick-Nachfolgern Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek als Direktoren, wird etwas später im Jahr, nämlich vom 20. Februar bis 1. März 2020 stattfinden.
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