Die Sehnsucht nach der selbstgewählten Abgeschiedenheit und Freiheit von der Welt da draussen lässt in Steven Michael Hayes‘ Drama «Jill» eine Familie in die Wälder Nordamerikas abtauchen, wo ihre jüngste Tochter zur Welt kommt und kein anderes Leben kennt als diese verhängnisvolle Ideologie.
Ted (Tom Pelphrey) und Joann (Juliet Rylance) haben sich in den endlosen Wäldern nahe der kanadischen Grenze Ende der Siebzigerjahre ihre neue Heimat aufgebaut, um ihre Kinder vor dem gesellschaftlichen und politischen Wandel zu schützen und auch selbst zur Ruhe zu kommen. Diese Zeit war damals, ähnlich wie heute, für viele Menschen frustrierend, weshalb sich manche aus der Gesellschaft zurückzogen. Im Fall von Ted und Joann funktioniert der Ausstieg, und das Bilderbuchfamilienleben in einem mit Liebe zum Detail eingerichteten Häuschen, mitsamt Gemüsegarten und See vor der Haustür, lässt noch nicht erahnen, dass die Ideologien der Eltern nicht unbedingt die der Kinder sein müssen.
Colt (Garrett Wareing) äussert an seinem 16. Geburtstag den Wunsch, aufs College gehen zu wollen. Mutter Joann unterstützt diese Idee, kann sich aber bei Ted nicht durchsetzen. Als Colt verschwindet und Mary (Anne Bennent), Joanns beste Freundin, heimlich zu Besuch kommt, beginnt Ted damit, eine riesige Festung zu bauen, da seine Ängste, aus dem Paradies vertrieben zu werden, immer schlimmer und zerstörerischer werden. Jill (Alison Skye) ist die stille Beobachterin in alledem, und sie und ihre Brüder können sich nur retten, wenn sie zusammenhalten.
Als Jill erwachsen ist – nunmehr gespielt von Dree Hemingway («Starlet», «While We’re Young») –, kehren die Erinnerungen in Fragmenten zurück. Warum sitzt ihr Bruder Win (Garrett Forster) im Gefängnis? Warum möchte Joann nicht darüber sprechen? Jill unternimmt eine Reise in die Vergangenheit, um in diese damals geschlossene Welt vorzudringen und herauszufinden, was wirklich passiert ist.
«Das Psychogramm einer toxischen, gescheiterten Ideologie wird auf zwei Zeitebenen aufgezogen: hier die junge Familie rund um die sechsjährige Jill, dort die erwachsene Jill, die nach Antworten sucht, ohne zu verurteilen. Dieser Spagat ist Regisseur Steven Michael Hayes in seinem Langspielfilmdebüt sehr gut gelungen.»
Das Psychogramm einer toxischen, gescheiterten Ideologie wird auf zwei Zeitebenen aufgezogen: hier die junge Familie rund um die sechsjährige Jill, dort die erwachsene Jill, die nach Antworten sucht, ohne zu verurteilen. Dieser Spagat ist Regisseur Steven Michael Hayes in seinem Langspielfilmdebüt sehr gut gelungen, und auch wenn viele Fragen offenbleiben, wie zum Beispiel, was aus dem verschwundenen Colt geworden ist, oder wie es nach dem tragischen Unfall für den kleinen Nathan (Tre Ryder) weiterging, lässt sich nur erahnen. Fragen werden beantwortet, ohne erklärt zu werden.
Das Drama dieser Kinder, die ungeschützt den Ängsten eines paranoiden Vaters ausgeliefert sind, ist erdrückend und spannend zugleich. John (Zackary Arthur) der sich mit gerade einmal zwölf Jahren dem Vater widersetzt, ist es, der seine jüngeren Geschwistern Geborgenheit gibt, sie badet, ein Huhn tötet, damit sie zu Essen haben, obwohl er strikt vegetarisch lebt. Es sind herzzerreissende Momente, die «Jill» hier vorlegt.
Auch hat Hayes das Setting äusserst klug realisiert: Die Schauspieler*innen wurden in den USA gecastet, aber die Dreharbeiten fanden grösstenteils im schweizerischen Jura statt, wo er das Haus der Familie bauen liess und sowohl Innen- als Aussenaufnahmen in diesem geschützten Rahmen drehen konnte. So war es möglich, diesen familiären Mikrokosmos exakt in Szene zu setzen und Vertrauen zwischen den Darsteller*innen aufzubauen, damit sie sich emotional und schauspielerisch voll entfalten konnten.
«Das Drama dieser Kinder, die ungeschützt den Ängsten eines paranoiden Vaters ausgeliefert sind, ist erdrückend und spannend zugleich.»
Die Idee dazu entwickelte Hayes indes nach einem längeren Aufenthalt in den USA, als er wieder in der Schweiz war und eine Kurzgeschichte von Matthew Cheney las, über einen Vater, der sich mit seinen Söhnen im Wald versteckt. Während des Drehbuch-Schreibprozesses näherte sich Hayes den Mechanismen dieses zerstörerischen Rückzugs an: Was Freiheit, Wahrheit, richtig oder falsch ist, verschwimmt, da keine Möglichkeit besteht, die Situation der Kinder an einer «real existierenden» Welt zu spiegeln. Jede*r hat ein eigenes Familiendrama, geht verbittert durchs Leben, versucht, es aufzuarbeiten, oder verdrängt es. «Jill» zeigt auf, dass es auch andere, mutige Möglichkeiten gibt, zu verzeihen und zu verstehen, wenn man erkennt, dass die Täter auch Opfer waren.
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Kinostart Deutschschweiz: 15.9.2022
Filmfakten: «Jill» / Regie: Steven Michael Hayes / Mit: Tom Pelphrey, Juliet Rylance, Dree Hemingway, Garrett Wareing, Garrett Forster, Zackary Arthur, Tre Ryder, Alison Skye, Anne Bennent / Schweiz, Deutschland / 101 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Frenetic Films AG
In Steven Michael Hayes Erstlingswerk «Jill» zerbricht eine Familie an einer verhängnisvollen Ideologie. Das wird tragisch und sehr berührend erzählt.
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