Ein ungezogener Teenager wird dazu verdonnert, seine Grossmutter zu pflegen – eine Geschichte, die schon zigmal erzählt wurde. Doch trotz der allgemeinen Vorhersehbarkeit ist «Juniper» von Matthew J. Saville ein rührseliger Film, der gefällt.
Der 17-jährige Sam (George Ferrier) hat genug vom Leben. Seine Mutter ist vor ein paar Monaten an Krebs gestorben; kurze Zeit später wurde er von seinem Vater Robert (Marton Csokas) in ein Internat gesteckt. Seine Abende und Nächte verbringt Sam damit, mit seinen Freunden Alkohol zu trinken und zu kiffen.
Als er von der Schule suspendiert wird, nimmt ihn sein Vater mit nach Hause, wo bereits die alkoholsüchtige Grossmutter Ruth (Charlotte Rampling) einquartiert wurde. Sie muss wegen verschiedener Gebrechen, unter anderem einem verletzten Bein, rund um die Uhr betreut werden. Da Robert für einige Tage nach England fliegt und die reguläre Pflegerin Sarah (Edith Poor) sich nicht die ganze Zeit allein um Ruth kümmern kann, wird Sam wird mit der Pflege seiner Grossmutter beauftragt.
Darüber ist er zunächst alles andere als erfreut. Doch schnell merken Sam und Ruth, welche beide vom Leben gezeichnete Sturköpfe sind, dass sie mehr gemeinsam haben, als sie zuerst dachten. Zwischen ihnen entwickelt sich eine wunderschöne unkonventionelle Freundschaft.
Charlotte Rampling und der neuseeländische Newcomer George Ferrier passen zusammen wie die Faust aufs Auge. Ihre Chemie ist grossartig und verleiht ihren Figuren und der Geschichte genau die nötige Zugänglichkeit.
Charlotte Rampling und der neuseeländische Newcomer George Ferrier passen zusammen wie die Faust aufs Auge. Ihre Chemie ist grossartig und verleiht ihren Figuren und der Geschichte genau die nötige Zugänglichkeit. Durch ihre Darbietungen wird das Publikum von der Geschichte mitgerissen, die Figuren wachsen einem ans Herz, und man ist gespannt, was als Nächstes mit ihnen passiert. Der Zynismus und der derbe Humor, der die beiden miteinander verbindet, wird von den Darsteller*innen glaubhaft vermittelt. Sei es, wenn er sich von ihr mit einem Glas bewerfen lässt, oder wenn die beiden so viel Gin zusammen trinken, dass er sich schliesslich übergeben muss.
Die von Marton Csokas und Edith Poor verkörperten Figuren hingegen wirken einseitig und flach. Dies liegt jedoch nicht an ihren Schauspielleistungen, sondern an der Figurenzeichnung im Drehbuch von Regisseur Matthew J. Saville. Es gibt keine Dialoge oder Szenen, in denen Csokas und Poor ihren Charakteren die nötige Tiefe geben können. Die Pflegerin Sarah ist religiös, aber mehr als das kann nicht über sie in Erfahrung gebracht werden. Robert wiederum hadert mit dem Tod seiner Frau und trifft sich inzwischen mit anderen Frauen – doch dazu äussert er sich nie.
Der Film schneidet einige sensible und wichtige Themen an: Sam versucht mehrfach, sich umzubringen, doch ausführlich thematisiert wird dies aber nie. Genau das wäre aber – nur schon aus präventiven Gründen – wünschenswert gewesen, denn spätestens seit der Serie «13 Reasons Why», wo sich eine Jugendliche umbringt, ist wegen der vielen Nachahmungen klar, wie wichtig eine ausführliche Thematisierung von Suizid ist. Ein Suizid(-versuch) darf nicht verherrlicht werden und auch nicht, wie in «Juniper», beiseite geschoben und heruntergespielt werden.
Erstaunlicherweise befasst sich der Film auch kaum mit Ruths Alkoholismus. Sie trinkt wie ein Loch und alle in ihrem Umfeld akzeptieren dies wortlos. Sogar ihre Pflegerin schenkt ihr so viel Gin ein wie befohlen. Es ist bedauerlich, wurde dieses Thema nicht mehr angesprochen, hätte es doch zu spannenden Konflikten führen können und Ruths Werdegang vielleicht noch besser erläutern können.
«Juniper» – was auf Deutsch Wachholder bedeutet, die Hauptzutat von Gin – ist aber trotz des Mangels an Originalität ein Film, bei dem keine Langeweile aufkommt. Die zwei Hauptfiguren sind derart liebevoll gespielt, dass man nur mit ihnen mitfühlen kann.
Ein weiterer negativer Punkt ist, mit wie vielen Klischees – böser Junge, der von einer eigenwilligen älteren Frau auf den richtigen Weg gebracht – «Juniper» beladen ist. Zu Beginn ist bereits klar, wie sich die Geschichte in etwa entfalten wird; das Publikum wird leider von keinen Wendungen überrascht.
«Juniper» – was auf Deutsch Wachholder bedeutet, die Hauptzutat von Gin – ist aber trotz des Mangels an Originalität ein Film, bei dem keine Langeweile aufkommt. Die zwei Hauptfiguren sind derart liebevoll gespielt, dass man nur mit ihnen mitfühlen kann. Und wem das noch nicht Grund genug ist für einen Kinobesuch: Spätestens die prachtvolle und geschickt inszenierte neuseeländische Landschaft wird alle in ihren Bann ziehen.
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Kinostart Deutschschweiz: 15.9.2022
Filmfakten: «Juniper» / Regie: Matthew Saville / Mit: Charlotte Rampling, George Ferrier, Marton Csokas, Edith Poor / Neuseeland / 94 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Cineworx
Mit «Juniper» erfindet Matthew J. Saville das Genre des Buddy-Dramas nicht neu. Trotzdem ist ihm ein rührender Film gelungen, in dem vor allem Charlotte Rampling und George Ferrier begeistern.
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