«Juror #2», die 40. Regiearbeit von Clint Eastwood, ist ein grandioses Spätwerk und eine aufwühlende Auseinandersetzung mit den Grenzen des amerikanischen Justizsystems.
94 Jahre alt ist er inzwischen, der archetypische «Man with No Name»-Westernheld aus Sergio Leones «Dollar»-Trilogie (1964–1966), Brutalo-Cop «Dirty» Harry Callahan höchstpersönlich, Regisseur von 40 Filmen, von denen gleich zwei – «Unforgiven» (1992) und «Million Dollar Baby» (2004) –, den Oscar für den besten Film einheimsten. Dass jedes neue Werk der Schauspiel- und Regielegende Clint Eastwood sein letztes sein könnte, gehört schon längst zur Marke «Clint Eastwood» dazu.
Entsprechend schwer konnte es einem in den letzten paar Jahren fallen, neue Eastwood-Produktionen nicht in diesem Kontext zu sehen und zu bewerten. Ja, Filme wie «Cry Macho» (2021), «Richard Jewell» (2019) und «The Mule» (2018) sind gut, streckenweise sogar sehr gut, und befassen sich auf faszinierende Weise mit dem Mythos Eastwood und seinem cineastischen und gesellschaftlichen Erbe. Doch den ganz grossen Meisterwerken aus seiner Karriere – darunter «Unforgiven», «The Outlaw Josey Wales» (1976), «A Perfect World» (1993), «The Bridges of Madison County» (1995) und «Letters from Iwo Jima» (2006) – können sie nicht das Wasser reichen.

Zoey Deutch und Nicholas Hoult in «Juror #2» / © 2024 Warner Bros. Ent. All Rights Reserved
Wer daraus aber schloss, dass sich dieser wohl letzte Abschnitt in Eastwoods Schaffen gänzlich dem Anhäufen von respektablen Spätwerken und Karriere-Fussnoten widmen würde, wird in «Juror #2» eines Besseren belehrt. Ausgehend von einem Drehbuch von Jonathan Abrams, verarbeitet dieser herausragende Eintrag in Eastwoods Filmografie einen herrlich reisserischen Groschenroman-Thrillerplot in eine messerscharfe, aber deshalb nicht minder unterhaltsame Auseinandersetzung mit dem US-Justizsystem.
Justin Kemp (Nicholas Hoult) lebt den amerikanischen Traum: Er ist ein fest angestellter Journalist, wohnt mit seiner Ehefrau Ally (Zoey Deutch) in einem Haus im malerischen Savannah im Bundesstaat Georgia und ist eifrig dabei, das Kinderzimmer für das Baby herzurichten, das er und Ally schon bald erwarten. An diesem Idyll scheint auch die Geschworenenpflicht, die für Justin ruft, nichts zu ändern: Da wird sich der charmante junge Mann schon irgendwie herausreden können.
«Ausgehend von einem Drehbuch von Jonathan Abrams, verarbeitet dieser herausragende Eintrag in Eastwoods Filmografie einen herrlich reisserischen Groschenroman-Thrillerplot in eine messerscharfe, aber deshalb nicht minder unterhaltsame Auseinandersetzung mit dem US-Justizsystem.»
Denkste: Die ambitionierte Anwältin Faith Killebrew (Toni Collette) und der überarbeitete Pflichtverteidiger Eric Resnick (Chris Messina) küren Justin prompt zu einem der zwölf Geschworenen im Prozess gegen James Michael Sythe (Gabriel Basso), dem zur Last gelegt wird, ein Jahr zuvor seine Freundin Kendall Carter (Francesca Eastwood) nach einem Streit in einer Bar zu Tode geprügelt und von einer Brücke geworfen zu haben.
Doch je mehr Justin während der Verhandlung über den Fall erfährt, desto mulmiger wird ihm zumute: Denn auch er war an jenem Abend in besagter Bar – und auf dem Heimweg fuhr er im strömenden Regen auf einer unbeleuchteten Brücke etwas an. Was, wenn es sich dabei doch nicht um ein Reh gehandelt hatte, wie er damals vermutete?

Toni Collette und Nicholas Hoult in «Juror #2» / Photograph by Claire Folger/Warner Bros./© 2024 Warner Bros. Ent. All Rights Reserved
In gewisser Hinsicht ist «Juror #2» eine äusserst willkommene Rückbesinnung auf das Hollywood der Neunzigerjahre – auf die Ära, in der Filme mit mittlerem Budget und erwachsenem Zielpublikum florierten, und nicht wenige davon, angetrieben von Schlüsselfiguren wie Schriftsteller John Grisham («The Firm», «The Pelican Brief») und Drehbuchautor Aaron Sorkin («A Few Good Men»), gerichtliche und anwaltschaftliche Ränkespiele ins Zentrum rückten.
Doch während viele Vertreter dieser Filmgattung ein Maximum an Dramatik und Pathos aus den theatralischen Tendenzen des amerikanischen Gerichtsprozederes herausholen – flammende Reden, schockierende Zeugenaussagen, herzerweichende Plädoyers –, höhlen Eastwood und Abrams es geradezu aus.
«Spätestens dann, als Justin im Geschworenenzimmer feststellt, dass er mit seinem Votum zum Freispruch allein auf weiter Flur steht, wird klar, dass ‹Juror #2› weitaus Fatalistischeres im Sinn hat.»
Eastwoods bekannt geradlinige Inszenierung, in der sich im Dienste eines effizienten Erzählflusses sachlich vorgetragene Szene an sachlich vorgetragene Szene reiht, reduziert die Verhandlung gegen James Michael Sythe nüchtern auf das Wesentlichste. Das Publikum sitzt quasi zusammen mit Justin Kemp auf der Geschworenenbank und sieht Faith Killebrew und Eric Resnick – von Toni Collette («Hereditary», «I’m Thinking of Ending Things») und Chris Messina («Sharp Objects», «Call Jane») wunderbar menschlich als durchaus kollegiale Kontrahent*innen verkörpert – dabei zu, wie sie die spärlich vorhandenen Fakten und unvollständigen Aussagen von Zeug*innen und Expert*innen im Todesfall Kendall Carter zu einem möglichst überzeugenden Narrativ zu verweben suchen. Dass bei so einer Verhandlung oft eher die Performance als die Wahrheit im Zentrum steht, illustriert die grossartige Entscheidung, die beiden Schlussplädoyers nicht aufeinander folgen zu lassen, sondern sie ineinander verzahnt zu zeigen, als würden sie sich in ihren Kernanliegen nicht widersprechen, sondern gegenseitig ergänzen.
Diese schnörkellose, flüssig vorgetragene Erzählung liesse sich in diesen Verhandlungsszenen vielleicht noch als Symbol für eine gut geölte rechtsstaatliche Maschinerie deuten: Alles verläuft nach Protokoll, der Prozess geht ohne filmreife Störungen über die Bühne. Doch spätestens dann, als Justin im Geschworenenzimmer feststellt, dass er mit seinem Votum zum Freispruch allein auf weiter Flur steht, wird klar, dass «Juror #2» weitaus Fatalistischeres im Sinn hat.

Gabriel Basso und Francesca Eastwood in «Juror #2» / Photograph by Claire Folger/Warner Bros./© 2024 Warner Bros. Ent. All Rights Reserved
Der von Gewissensbissen geplagte Justin übernimmt hier im Grunde die Rolle des legendären Henry Fonda in «12 Angry Men» (1957), der seine Mitgeschworenen 90 Minuten lang mahnt, keine vorschnellen Urteile zu fällen. Doch der Unterschied zu Fondas «Juror #8» in Sidney Lumets Film ist, dass Hoults «Juror #2» letztlich nicht aus Respekt vor einem abstrakten demokratischen Ideal für Sythes Unschuld argumentiert, sondern aus Eigennutz und Selbstschutz: Justin will ein reines Gewissen, ohne seinen eigenen komfortablen Lebensentwurf aufs Spiel setzen zu müssen.
Damit suggeriert der Film, dass das System, das während der Verhandlung so makellos zu funktionieren schien, auf ziemlich wackligen Beinen steht. Und Justin ist nicht der einzige Störfaktor in diesem Gefüge: Andere Geschworene wollen Sythe verurteilen, weil er Gang-Tattoos trägt, andere, weil er dem True-Crime-Podcast-Stereotypen eines gewalttätigen Partners entspricht, wieder andere, weil sie möglichst schnell wieder nach Hause gehen wollen; derweil der Erfolg von Faith Killebrews Wahlkampf fürs Amt der Staatsanwältin eng mit dem Ausgang des Kendall-Carter-Falls verknüpft ist.
«Damit suggeriert der Film, dass das System, das während der Verhandlung so makellos zu funktionieren schien, auf ziemlich wackligen Beinen steht.»
So zeigt «Juror #2» nicht nur die Grenzen auf, die jeglichem Versuch, der menschlichen Subjektivität mit «objektiven» staatlichen Strukturen beizukommen, gesetzt sind; der weitere Verlauf der Handlung stellt sogar die fundamentale Motivation solcher Strukturen infrage. In der letzten halben Stunde des Films wird der nüchterne Blick von Yves Bélangers Kamera endgültig zu einem bohrenden Starren, die simple Effizienz von Eastwoods Inszenierung zu einem Werkzeug, mit dem die ernüchternden Schlussfolgerungen der Geschichte unmissverständlich offengelegt werden: Wahrheit und Gerechtigkeit haben nur bedingt etwas miteinander zu tun, und wenn es darum geht, die eigene Glaubwürdigkeit zu schützen, wird das Justizsystem beide Maxime ignorieren.

Toni Collette und J. K. Simmons in «Juror #2» / Photograph by Claire Folger/Warner Bros./© 2024 Warner Bros. Ent. All Rights Reserved
Das Gesetz, so scheint es, ist letztlich halt nicht eine organische Tatsache der menschlichen Existenz, sondern ein ganz profanes Regelwerk, das nur funktioniert, wenn man sich darauf einlässt. «Give me a dollar», sagt Larry (Kiefer Sutherland), ein Anwalt und Justins Sponsor bei den Anonymen Alkoholikern, als dieser ihn um Rat fragt: Denn sobald Justin ihm eine Banknote in die Hand drückt, tritt ihre Freundschaft in den Ausstand und wird ersetzt durch die gesetzlich-symbolische Beziehung zwischen einem Anwalt und seinem Klienten – Schweigepflicht inklusive.
«Dieses Unbehagen über den Graben zwischen menschlichem Verhalten und institutioneller Kodifizierung ist kein Novum in Eastwoods Karriere.»
Dieses Unbehagen über den Graben zwischen menschlichem Verhalten und institutioneller Kodifizierung ist kein Novum in Eastwoods Karriere: Viele seiner Filme handeln von unvollkommenen Institutionen – der Polizei («A Perfect World», «Richard Jewell»), der NASA («Space Cowboys»), dem US-Präsidentenamt («Absolute Power»), dem amerikanischen Militär («Flags of Our Fathers», «American Sniper») – und selbsternannten oder angeblichen «Good Guys» – William Munny («Unforgiven»), Walt Kowalski («Gran Torino»), J. Edgar Hoover («J. Edgar»), Chris Kyle («American Sniper»), Chesley Sullenberger («Sully»), Richard Jewell –, die mit der Tatsache konfrontiert werden, dass moralische Gewissheit, kosmische Gerechtigkeit und mitunter auch ihre eigene Rechtschaffenheit Illusionen sind. Wie Eastwood in «Unforgiven» selber grummelt, als er seinen korrupten Gegenspieler erschiesst: «Deserve’s got nothin‘ to do with it.»
Und auch die konservativ-libertäre Politik, in der sich Eastwood immer wieder implizit und explizit verortet, schwingt in der skeptischen Darstellung von Staatsmacht in «Juror #2» mit – und kontrastiert damit paradoxerweise den hurrapatriotischen Chauvinismus, der die trumpistische konservative Rechte in den USA derzeit prägt.

Chris Messina in «Juror #2» / Photograph by Claire Folger/Warner Bros./© 2024 Warner Bros. Ent. All Rights Reserved
«Die provokanten politischen Fragen, die Eastwood hier aufwirft, zeigen, wie relevant und schlagkräftig sein Kino noch immer ist.»
Wohlverstanden, «Juror #2» ist zuallererst ein spannendes Gerichts-Thrillerdrama. Doch die provokanten politischen Fragen, die Eastwood hier aufwirft, zeigen, wie relevant und schlagkräftig sein Kino noch immer ist. «It’s not a perfect system, but it’s the best one we’ve got», sagt Eric Resnick einmal. Und vielleicht ist das nicht genug.
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Kinostart Deutschschweiz: 16.1.2025
Filmfakten: «Juror #2» / Regie: Clint Eastwood / Mit: Nicholas Hoult, Toni Collette, J. K. Simmons, Chris Messina, Gabriel Basso, Zoey Deutch, Cedric Yarbrough, Kiefer Sutherland, Leslie Bibb, Amy Aquino, Francesca Eastwood / USA / 114 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © 2024 Warner Bros. Ent. All Rights Reserved
«Juror #2» von Clint Eastwood verbindet ein effizient gemachtes, ungemein unterhaltsames Gerichts-Thrillerdrama mit faszinierenden Denkanstössen über Schuld und Sühne.
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