«Kajillionaire» ist seltsam. Und das ist auch gut so. Der neue Film der Multimedia-Künstlerin Miranda July, eine melancholische Tragikomödie um eine kleinkriminelle Familie in Los Angeles, besticht mit seiner kompromisslosen Originalität.
Zugegeben, das Stichwort «kleinkriminelle Familie» mag im Jahr 2020 nicht sonderlich originell klingen – nicht in einer Welt, in der bereits «Shoplifters» (2018) und «Parasite» (2019) zu Arthouse-Kassenschlagern avancierten. Doch Miranda July («Me and You and Everyone We Know», «The Future») geht in ihrer dritten Langspielfilm-Regiearbeit einen etwas anderen Weg: weniger explizit gesellschaftskritisch, mehr daran interessiert, das exzentrische Potenzial der eigenen Prämisse auszuloten.
Im Zentrum von «Kajillionaire» steht Old Dolio (sic), grossartig gespielt von Evan Rachel Wood, die zusammen mit ihren Eltern Theresa (Debra Winger) und Robert (Richard Jenkins) durch die Strassen von Los Angeles zieht und Ausschau hält nach Mitteln und Wegen, um an Geld zu kommen. Denn die drei haben sich längst losgesagt vom gutbürgerlichen Traum, «Kajillionaires» zu werden, und leben stattdessen von kleinen ergaunerten Summen, mit denen sie sich ihre Wohnung – einen von regelmässigen Schaumlecks heimgesuchten Büroraum neben einer Seifenfabrik – finanzieren: hier eine Mehrfachteilnahme an einem Preisausschreiben, dort ein gestohlener Briefumschlag, hier ein Stück Nippes mit Rückgaberecht, dort eine gefälschte Unterschrift auf einem Scheck.
«Tatsächlich scheint Old Dolio zur Unsichtbarkeit erzogen worden zu sein: Sie spricht kaum, und wenn, dann nur in gedämpften Tönen. Sie fürchtet Körperkontakt mit anderen Menschen; ihr Trainingsanzug in Übergrösse hat etwas von einem Schildkrötenpanzer. Immer wieder droht ihr Gesicht hinter ihren langen strohblonden Haaren zu verschwinden.»

Gina Rodriguez als „Melanie“ an der Seite von Evan Rachel Wood als „Old Dolio Dyne“ / © 2020 Focus Features
Anders als in «Shoplifters» und «Parasite» jedoch wird hier die Familie nicht sonderlich grossgeschrieben: Für Robert und Theresa war Old Dolio schon immer mehr Komplizin als Tochter – jemand, der längerfristig mehr von Trickbetrugsunterricht als von emotionaler Zuneigung hat. Tatsächlich scheint Old Dolio zur Unsichtbarkeit erzogen worden zu sein: Sie spricht kaum, und wenn, dann nur in gedämpften Tönen. Sie fürchtet Körperkontakt mit anderen Menschen; ihr Trainingsanzug in Übergrösse hat etwas von einem Schildkrötenpanzer. Immer wieder droht ihr Gesicht hinter ihren langen strohblonden Haaren zu verschwinden. Kein Wunder, ist ihre Spezialität das Umgehen der Überwachungskameras vor dem Postamt.
Doch diese Konstellation gerät ins Wanken, als Theresa und Robert die enthusiastische Quasselstrippe Melanie (Gina Rodriguez) zum Bandenmitglied ehrenhalber ernennen: Die selbstbewusste junge Frau führt Old Dolio nämlich vor Augen, dass sie in ihrem abgekapselten Leben mehr verpasst hat als nur den nutzlosen Kram, mit dem all den Möchtegern-Kajillionaires dieser Welt das Geld aus der Tasche gezogen wird.
Es wird Kinogänger*innen geben, die Mühe haben mit dem, was July hier versucht. Wer eine Kuriosität im Stile von Tim Burton oder den Coen-Brüdern erwartet, wird sich in «Kajillionaire» ziemlich schnell verloren fühlen, da der Film trotz seiner demonstrativen, oft urkomischen Verschrobenheit keinerlei Anstalten macht, diese Elemente in irgendeiner Form ironisch zu brechen: July und ihre Darsteller*innen verzichten auf jegliches Augenzwinkern und nehmen die entzückende Verspieltheit der Affiche konsequent ernst. Sei es der filterlose Vermieter (wunderbar: Mark Ivanir) oder seien es die ständigen Erdbeben, die das Geschehen erschüttern: Nichts davon ist auf eine Weise geschrieben, inszeniert oder gespielt, die suggerieren würde, man wohne etwas Aussergewöhnlichem bei. Das Sonderbare ist hier ganz alltäglich – wodurch konventionelle Sehgewohnheiten herausgefordert werden.
«Indem sie ihren Figuren auf Augenhöhe begegnet, schafft es July, trotz aller Absurdität eine zärtliche, tief berührende Geschichte über Old Dolios Auseinandersetzung mit Liebe, Loyalität und Identität in einer Welt zu erzählen, in der es allzu oft nur ums nackte Überleben zu gehen scheint.»

Gina Rodriguez als ‚Melanie‘, Richard Jenkins als ‚Robert Dyne‘ und Evan Rachel Wood als ‚Old Dolio Dyne‘ / © 2020 Focus Features
Gewisse Szenen mögen so zwar das Gefühl vermitteln, man warte vergebens auf eine Pointe – wobei selbst das verkraftbar ist, auch dank der bunten, lichtdurchfluteten Bilder von Kameramann Sebastian Winterø. Insgesamt ist die Brillanz dieses Konzepts aber klar ersichtlich. Indem sie ihren Figuren auf Augenhöhe begegnet, schafft es July, trotz aller Absurdität eine zärtliche, tief berührende Geschichte über Old Dolios Auseinandersetzung mit Liebe, Loyalität und Identität in einer Welt zu erzählen, in der es allzu oft nur ums nackte Überleben zu gehen scheint.
Unglaublich die Sequenz, in der ein sterbendes Betrugsopfer die verdutzten Protagonist*innen dazu auffordert, in seinem Haus Familie zu spielen. Unvergesslich die Szene, in der Old Dolio, als wäre sie die Erzählerin von Roy Anderssons «About Endlessness» (2019), inmitten eines eingebildeten Sternenhimmels sinniert, was verloren ginge, wenn sie und Melanie soeben gestorben wären. Es ist unmöglich, diesen bemerkenswerten Film auf einzelne Momente, Themen und Schlagworte zu reduzieren: July ist mit «Kajillionaire» ein gänzlich eigenständiges Werk gelungen, das es mit eigenen Augen zu geniessen gilt.
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Kinostart Deutschschweiz: 12.11.2020
Filmfakten: «Kajillionaire» / Regie: Miranda July / Mit: Evan Rachel Wood, Debra Winger, Richard Jenkins, Gina Rodriguez / USA / 106 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © 2020 Focus Features
Miranda July fordert ihr Publikum in «Kajillionaire» mit einer wunderbar selbstverständlichen Seltsamkeit heraus. Das ist ebenso originell wie urkomisch und tief berührend.
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