Alice Rohrwacher wandelt in «La chimera» auf den Spuren des italienischen Sozialrealismus, erweitert ihn aber einmal mehr um ihre ganz eigene Mischung aus Magie und formaler Spielfreude. Daraus resultiert ein grossartiger Film über die intime Beziehung zwischen den Menschen, ihrem Umfeld und ihrer Geschichte.
Von «Sweet Country» (2017) und «One Day in the Life of Noah Piugattuk» (2019) bis «Memoria» (2021) und «Utama» (2022): Die Idee, dass die Menschen und das Land, auf dem sie leben, untrennbar, ja geradezu mystisch miteinander verbunden sind, ist im Kino – und insbesondere im internationalen Filmschaffen, das sich mit dem Verlust traditioneller Lebensweisen in Gebieten mit kolonialer Geschichte auseinandersetzt – ein beliebtes Motiv.
Vergleichsweise selten ist das Thema allerdings im westeuropäischen Film, und das nicht ohne Grund: Wer sich im dicht besiedelten, historisch multikulturellen Europa – mit seinen jahrhundertelangen Bestrebungen, den Rest der Welt mit Gewalt von der eigenen angeblichen Überlegenheit zu überzeugen – auf essenzielle Zusammenhänge zwischen Geografie und einzelnen Volksgruppen beruft, landet sehr schnell in der ideologischen Nähe «Blut und Boden» skandierender Rechtsextremer.
Umso beeindruckender ist das Kunststück, das die italienische Regisseurin und Drehbuchautorin Alice Rohrwacher («Lazzaro felice») in ihrem neuen Film zustande bringt: Frei von jeglichem völkischen Mief erzählt «La chimera» von der Beseeltheit der Erde, auf der wir gehen, von der delikaten Wechselwirkung zwischen Land und Mensch und von der Gefahr, die droht, sollte man diese Verbindung je aus den Augen zu verlieren. Und dem Film sind diese Gedanken augenscheinlich ein grosses Anliegen, handelt er doch unter anderem davon, wie sich die Hauptfigur, der verschlossene Engländer Arthur (Josh O’Connor), in seiner italienischen Wahlheimat einer Frau namens Italia (Carol Duarte) anzunähern beginnt.
Im Zentrum von Rohrwachers Erzählung, die in einer leicht überhöhten Version der 1980er Jahre spielt, steht jedoch Arthurs Tätigkeit als Grabräuber: Zusammen mit einem treuen Trupp von Einheimischen streift er durch die toskanische Provinz, in der mittelalterliche Befestigungen neben Elektrizitätswerken und Autobahnbrücken stehen, und sucht nach 2’500 Jahre alten etruskischen Gräbern, deren Grabbeigaben auf dem Schwarzmarkt gewinnbringend verkauft werden können.
Wie schon in «Lazzaro felice» bedient sich Rohrwacher hier bei den Stilmitteln des italienischen Realismus: An der Oberfläche ist «La chimera» eine gemächlich getaktete ethnografische Milieustudie, in der das klassische dramatische Erzählen dem exemplarischen Aufzeigen von Alltagssituationen untergeordnet ist. Gerade in der ersten Hälfte des Films wird das Publikum mithilfe von Hélène Louvarts körnigen, nostalgisch entrückten Bildern behutsam an Arthurs Leben als bescheiden lebender Exil-Grabräuber in der verschworenen norditalienischen Dorfgemeinschaft herangeführt.
«An der Oberfläche ist ‹La chimera› eine gemächlich getaktete ethnografische Milieustudie, in der das klassische dramatische Erzählen dem exemplarischen Aufzeigen von Alltagssituationen untergeordnet ist.»
Doch bereits in diesen Sequenzen machen sich Rohrwachers Brüche mit dieser Konvention bemerkbar. Arthur verkehrt mit einer ansässigen Adligen (Isabella Rossellini), die, fast wie im Märchen, in einer langsam auseinanderfallenden Villa wohnt und immer wieder von einer Heerschar von Töchtern besucht wird. Die Hintergrundgeschichten von Situationen und Figurenkonstellationen werden nicht durch realistischen Dialog oder autoritatives Voiceover kommuniziert, sondern durch Schauspieler*innen, welche sich direkt an die Kamera wenden, und Gesangsrunden, welche die Rolle eines griechischen Chors einnehmen. Und bei Arthurs Talent, Gräber ausfindig zu machen – Gräber, die, so Italia, ihre Seele verlieren, wenn sie von den Raub-Archäolog*innen leergeräumt werden –, scheint wiederum mindestens ein Quäntchen Magie im Spiel zu sein.
Das ist der Reiz von Rohrwachers Kino: die konsequente Entschlossenheit, mit dem eigenen Stoff dramaturgisch und formal zu spielen – sich in einem erkennbaren naturalistischen Rahmen letztlich gegen den Naturalismus zu entscheiden, dem Publikum stimmungsvolle Schlenker zuzumuten, die sich der etablierten Filmlogik widersetzen, und die thematische Essenz eines Films nicht von einer stromlinienförmigen Handlung abhängig zu machen.
So erwischt einen «La chimera» immer wieder auf dem falschen Fuss, ohne jedoch die eigene emotionale und metaphorische Schlagkraft zu beeinträchtigen. Was als zärtliche, mitunter ironisch gebrochene Geschichte eines Aussenseiters, der gleich in mehrerlei Hinsicht in der Vergangenheit lebt, beginnt, entwickelt sich nach und nach in eine faszinierende Auseinandersetzung mit Sinn und Unsinn von Archäologie, mit der Monetarisierung von kulturellem Erbe und – nicht zuletzt – mit den unsichtbaren Fäden, die Menschen und Orte miteinander verbinden.
«Was als zärtliche, mitunter ironisch gebrochene Geschichte eines Aussenseiters, der gleich in mehrerlei Hinsicht in der Vergangenheit lebt, beginnt, entwickelt sich nach und nach in eine faszinierende Auseinandersetzung mit Sinn und Unsinn von Archäologie.»
Dieser Prozess, dieses Erweitern einer Charakter- und Milieustudie zur poetischen Reflexion über den kollektiven Umgang mit der Historie, findet seinen Höhepunkt in einer schlichtweg grandios inszenierten Szene, mit der Rohrwacher unmissverständlich deutlich macht, wie fest sie – bei allen Spielereien – ihr Material im Griff hat.
Es ist irgendwo in der Mitte des Films; Arthur und sein Gefolge graben sich nachts zu einer noch versiegelten etruskischen Kammer vor. Italia schreit Zeter und Mordio, will die Polizei rufen, um die Kleinganoven davon abzuhalten, die heilige Ruhe der Stätte zu stören. Doch Arthur schickt sie weg – und als Zuschauer*in ist man geneigt, sich dafür bei ihm zu bedanken: Sämtliche Gräber, die bis zu diesem Zeitpunkt in «La chimera» ausgehoben wurden, waren nicht mehr versiegelt; entsprechend gross ist die Neugierde, Rohrwachers Version einer seit zweieinhalb Jahrtausenden unberührten Kultstätte zu sehen.
Doch bevor Arthurs Brecheisen den Felsquader anhebt, der ihn von seinem Schatz trennt, schneiden Rohrwacher und Schnittmeisterin Nelly Quettier («La Ligne») in die düstere Kammer: Eine simple Reihe von Einstellungen verschafft dem Publikum einen kurzen Überblick über die atemberaubende Schönheit, die hier verborgen liegt – liebevolle Wandmalereien, kleine Tierfiguren, die Statue einer längst vergessenen Gottheit. Ein Raum, der ausserhalb aller Zeit zu existieren scheint – und plötzlich wirken Italias lautstarke Einwände gar nicht mehr so übertrieben.
Aber es ist zu spät: Das Siegel wird durchbrochen, die hereinströmende frische Luft lässt die Wandmalereien beschlagen – die stille Erhabenheit der Kammer, die Arthur sogleich als Tempel identifiziert, ist für immer verloren. Jeder noch so vorsichtige Schritt der Grabräuber*innen scheint die fragilen Statuetten zu bedrohen; und schon bald werden Arthur und das Kinopublikum Zeug*innen eines unbeschreiblichen – aber letztlich irgendwie doch opferlosen – Gewaltakts.
«Die Menschheit ist Teil einer lebendigen, geheimnisvollen Welt – und vielleicht wäre diese Welt ein besserer Ort, wenn sie nicht dazu gezwungen würde, alle ihrer Geheimnisse preiszugeben.»
«La chimera» kreist um diese meisterhafte Szene: Sie stellt alles Vorangegangene in einen neuen Kontext und ist die Erklärung für den weiteren Verlauf, den die Handlung nehmen wird (ein Verlauf, in dem sowohl Alba Rohrwacher, die als Schauspielerin bekannte Schwester der Regisseurin, als auch der Vierwaldstättersee zu grossartigen Gastauftritten kommen). Sie illustriert das Potenzial von Rohrwachers Bereitschaft, radikal die Perspektive zu wechseln; und sie bringt das Anliegen dieses wunderschönen, nachdenklichen, herausragenden Films auf den Punkt: Die Menschheit ist Teil einer lebendigen, geheimnisvollen Welt – und vielleicht wäre diese Welt ein besserer Ort, wenn sie nicht dazu gezwungen würde, alle ihrer Geheimnisse preiszugeben.
Mehr zum Zurich Film Festival 2023
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Kinostart Deutschschweiz: 12.10.2023
Filmfakten: «La chimera» / Regie: Alice Rohrwacher / Mit: Josh O’Connor, Carol Duarte, Vincenzo Nemolato, Isabella Rossellini, Alba Rohrwacher, Lou Roy-Lecollinet / Italien, Frankreich, Schweiz / 133 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi Zürich AG
Mit dem spielfreudigen, thematisch vielschichtigen «La chimera» etabliert sich Alice Rohrwacher endgültig als eine der besten europäischen Regisseurinnen der Gegenwart.
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