Wie können sich zwei Menschen begegnen, wenn so viel Ungelöstes und so viel Wut im Raum steht? Was ist, wenn diese zwei Menschen obendrein nicht nur miteinander verwandt, sondern sogar Mutter und Tochter sind? So eine konfliktbeladene Beziehung thematisiert Ursula Meier in ihrem beeindruckenden neuen Film «La Ligne».
Der Film beginnt mit einer fulminanten dramatischen Eröffnungsszene, die einen bewegten, gewaltsamen Streit zwischen der egozentrischen Mutter Christina (Valeria Bruni Tedeschi) und ihrer unbändigen und aggressiven Tochter Margaret (Stéphanie Blanchoud) zeigt. Die Szene entfaltet sich gänzlich in Zeitlupe, begleitet von aufbrausender klassischer Musik und erschütterten Familienmitgliedern. Ursula Meier («Home», «L’enfant d’en haut») inszeniert den Streit wie einen Tanz. Die extreme Verlangsamung verleiht den in Wahrheit rasanten Bewegungen der Figuren eine Leichtigkeit, die in starkem Kontrast zum aufgeregten Konflikt steht.
Der Streit endet mit einer Verletzung der professionellen Pianistin Christina: Sie ertaubt auf einem Ohr und muss deswegen ihre Musikkarriere beenden. Der Verlust wiegt schwer und Christina will ihren zuvor geliebten Flügel – und mit ihm gleich alle Musik – schnellstmöglich aus ihrem Haus verbannen.
Im weiteren Verlauf behandelt der Film die Folgen dieses Streits. Margaret darf sich ihrer Mutter drei Monate lang nicht mehr nähern und muss mindestens 100 Meter Abstand halten, weshalb Marion (Elli Spagnolo), die jüngste Schwester der aggressiven Margaret, rund um Christinas Haus im 100-Meter-Radius eine Linie auf dem Boden zeichnet – daher «La Ligne». Marion versucht neben ihren nächtlichen Gebeten, alles, um Frieden zwischen den Familienmitgliedern zu stiften und verhält sich als Vermittlerin im Familienstreit. Eine typische Familie also.
«‹La Ligne› imponiert nicht nur wegen Meiers präziser Inszenierung der Figuren und deren ausserordentlicher schauspielerischer Leistungen. Der Film glänzt auch mit atemberaubenden Aufnahmen, die gekonnt zwischen einer abstrakten Künstlichkeit und einer naturalistischen Realität oszillieren.»
«La Ligne» imponiert nicht nur wegen Meiers präziser Inszenierung der Figuren und deren ausserordentlicher schauspielerischer Leistungen. Der Film glänzt auch mit atemberaubenden Aufnahmen, die gekonnt zwischen einer abstrakten Künstlichkeit und einer naturalistischen Realität oszillieren. Will heissen: Es wird grosser Wert auf eine genaue, ja künstliche Platzierung der Figuren und der Objekten in ihrer Umgebung gelegt, die miteinander ein visuelles Fest zelebrieren. Gleichzeitig bleiben die Aufnahmen aber auch realistisch, fast schon dokumentarisch.
Diese künstlich-realistische Mischung trägt gut zur Stimmung der Geschichte bei, da auch sie zwischen zwei Polen pendelt – dem Drama und der Komödie. Auch diese Stimmungen vermischen und ergänzen sich. Dabei versteckt sich der Humor oft in der überspitzten Dramatik im Leben dieser Figuren. Jedoch lässt das Komische das Drama nicht weniger dramatisch wirken; vielmehr bringt es eine weitere Qualität ins Geschehen, eine weitere Dimension, und beleuchtet die Widersprüche und Absurditäten menschlicher Beziehungen.
Die Musik spielt im Film eine wichtige Rolle. Sie begleitet das Leben der Figuren, verbindet sie miteinander und schafft gefühlvolle Brücken zwischen ihnen. Aber auch der Film selbst wird durchgehend von vorwiegend klassischer Musik begleitet. Nie drängt sie sich auf, sondern erzählt auf ihre eigene Art, was visuell nicht erzählt werden kann: Sie beleuchtet den tief sitzenden Schmerz von Margaret, erinnert nostalgisch an eine vermeintlich glücklichere Familienvergangenheit, erweckt Hoffnung auf Versöhnung und untermalt schliesslich die Komik des menschlichen Lebens.
«Ursula Meier erzählt in ihrem Film nicht einfach – sie zeigt. Das visuelle Erzählen steht hier im Vordergrund, und diese kräftige und kondensierte Bildsprache kitzelt unser Unterbewusstsein wach und spricht uns emotional an.»
Ursula Meier erzählt in ihrem Film nicht einfach – sie zeigt. Das visuelle Erzählen steht hier im Vordergrund, und diese kräftige und kondensierte Bildsprache kitzelt unser Unterbewusstsein wach und spricht uns emotional an. «La Ligne» bietet keine Erklärungen, keine handfesten Gründe für den Familienstreit, kein allwissendes Voiceover, keine informativen Flashbacks. Vieles bleibt offen. Nur der filmische Moment zählt, der immer wieder grossartig und im nächsten Moment schon wieder vorbei ist.
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Kinostart Deutschschweiz: 16.2.2023
Filmfakten: «La Ligne» / Regie: Ursula Meier / Mit: Stéphanie Blanchoud, Valeria Bruni Tedeschi, Elli Spagnolo, India Hair / Schweiz, Frankreich, Belgien / 102 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi Zürich AG / Bandita Films / Les films de Pierre
«La Ligne» ist ein perfekt inszenierter Filmtanz. Die Aufnahmen sind gewaltig, die Protagonistin gewalttätig und Regisseurin und Co-Autorin Ursula Meier genial.
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