Während des Zweiten Weltkriegs hat die Schweizer Armee insgesamt 16 tödliche Schüsse abgefeuert: alle auf eigene Landsleute, die der Spionage und des Landesverrats schuldig befunden wurden. Der Erste war der 23-jährige Soldat Ernst Schrämli. Regisseur Michael Krummenacher hat sich dieser für die Schweiz sehr untypischen Premiere bedient und in einem aufwühlenden Spielfilm verpackt. «Landesverräter» erzählt die wahre Geschichte eines naiven Landstreichers, der in aussichtslosen Zeiten zu viel für seinen Traum riskiert und am Ende mit dem Leben bezahlt. Es ist gleichzeitig aber auch eine berechtigte Auseinandersetzung mit der Frage, welche nicht ganz unproblematische Rolle die Schweiz im Krieg spielte.
Schweiz, 1942: Als wären die Umstände nicht schon schwierig genug, fordert das Leben den jungen Ernst Schrämli (Dimitri Krebs) gleich doppelt heraus: Vom eigenen Vater (Ernst C. Sigrist) verstossen, lungert der Vagabund ohne Perspektive und festes Dach über dem Kopf auf den Strassen St. Gallens herum und drückt sich vor dem obligatorischen Wehrdienst. Sein grosser Lebenstraum? Als berühmter Sänger in Deutschland durchzustarten. Da kommt ihm der extravagante Nazi-Geheimagent August Schmid (Fabian Hinrichs) gerade gelegen. Dieser verspricht ihm das Blaue vom Himmel und fordert im Gegenzug geheime Informationen über das Schweizer Militär. Der naive Ernst willigt ein, in Aussicht auf ein Visum und grosszügige Entlöhnung.
Michael Krummenacher («Heimatland», «De Räuber Hotzenplotz») ist nicht der Erste, der diese tragische Lebensgeschichte für sich entdeckt und kreativ aufbereitet hat. Bereits in den Siebzigerjahren veröffentlichte der St. Galler Journalist Niklaus Meienberg mit Richard Dindo («Grünigers Fall») eine Reportage und einen Dokumentarfilm, die Ernst Schrämli zu einer Galionsfigur der kritischen historischen Auseinandersetzung mit der Schweizer Rolle im Zweiten Weltkrieg machten.
Fast 50 Jahre später haben sich die Umstände und Herangehensweise zwar drastisch geändert; die Absichten sind jedoch dieselben geblieben: hinschauen statt unter den Teppich kehren, Respekt zollen statt in Vergessenheit geraten lassen. Die Verurteilung von Schrämli ist ein erschreckendes Exempel dafür, wie widersprüchlich die Schweiz im Zweiten Weltkrieg teilweise handelte: Ein junger Träumer muss dafür büssen, weil er verbotene Geschäfte mit den Nazis macht. Gleichzeitig liefern Emil Bührle und Co. im grossen Stil Waffen und Kriegsmaterial nach Deutschland. Neutralität? Fehlanzeige. Fragezeichen? Auf jeden Fall. So auch bei der Truppe, die bei der Hinrichtung ihres eigenen Kameraden feststellen muss, dass es hier mehr um Einschüchterung als um Bestrafung geht – eine Art brutaler PR-Stunt quasi.
«Hinschauen statt unter den Teppich kehren, Respekt zollen statt in Vergessenheit geraten lassen.»
Apropos Stunt: Mindestens so spektakulär wie die Geschichte fällt die Besetzung von Krummenachers Spielfilms aus. Das liegt zum einen an den grossen Namen wie Fabian Hinrichs («Tatort», «Wackersdorf»), Stefan Gubser («Tatort», «Grounding») und Luna Wedler («Biohackers», «Soul of a Beast»), in erster Linie aber an der Hauptrolle, die sich ein bisher Unbekannter geschnappt hat: Dimitri Krebs. Nachdem Krummenacher gefühlt jeden jungen Schauspieler des Landes unter die Lupe genommen hatte, berichtete ihm ein Freund von einem talentierten Schlagzeuger. Im Internet existierten von ihm weder Bild noch Profil. Trotzdem – oder genau deshalb? – kam es zu einem Treffen. Und siehe da: Ernst Schrämli war gefunden. Zwar schon 27 statt 23 Jahre alt, dafür biografisch gesehen mit seiner Kindheit im Zürcher Industriequartier und diversen Jobs im Niedriglohnsektor ein perfekter Match. Und ist es nicht fast schon poetisch, eine derart verstossene Figur mit einem Underdog auferstehen zu lassen? Fest steht, dass Krebs dieser Debüt-Hauptrolle mehr als würdig ist.
Leider fällt der Einstieg in «Landesverräter» aber nicht ganz so geschmeidig aus wie der von Krebs in die Schauspielwelt. Zwar ist die Idee raffiniert, jeder Figur, die durch ihr Tun massgeblich zur Tragödie beiträgt, ein eigenes Kapitel zu widmen. Allerdings dauert es an manchen Stellen zu lange, bis der Funke überspringt. Besonders im ersten Drittel erweckt «Landesverräter» bisweilen den Eindruck eines Dorftheaters, das gerade Premiere in der örtlichen Mehrzweckhalle feiert – keineswegs wegen mangelnder Qualität oder fehlenden Engagements, sondern vielmehr weil gewisse Figuren und Handlungsstränge viel Zeit brauchen, um aufzublühen und sich glaubhaft in die Geschichte einzugliedern. Das zeigt sich zum Beispiel in Schrämlis Bekanntschaft mit seiner Geliebten Gerti Zanelli (Wedler) oder beim Zustandekommen des verhängnisvollen Deals im deutschen Konsulat.
«Im Allgemeinen überzeugt die zweite Filmhälfte deutlich mehr und gipfelt in einem grossartigen Finale.»
Glücklicherweise legt der Film kontinuierlich an Tempo und Intensität zu, weshalb er es letztendlich doch schafft, das Ruder herumzureissen. Im Allgemeinen überzeugt die zweite Filmhälfte deutlich mehr und gipfelt in einem grossartigen Finale, in dem sich Krummenacher das clevere Gesangs-Stilmittel, das vorher immer mal wieder auftaucht, optimal zunutze macht.
«‹Landesverräter› beginnt harmlos und überschaubar, ist teilweise nicht ganz zu Ende gedacht und endet mit einem hochdramatischen und ergreifenden Knall.»
Alles in allem deckt sich «Landesverräter» also gut mit der spannenden Biografie von Ernst Schrämli. Es beginnt harmlos und überschaubar, ist teilweise nicht ganz zu Ende gedacht und endet mit einem hochdramatischen und ergreifenden Knall. Wäre Schrämli noch am Leben, würde er wohl nicht nur in die Hände klatschen, weil es sein Leben ins Kino geschafft hat und das ungerechte Urteil endlich anerkannt wird, sondern auch, weil ein düsteres, aber wichtiges Kapitel der Schweizer Geschichte Gehör findet, das viel zu lange verschwiegen oder gar von der Bildfläche verdrängt werden wollte.
Mehr zum Zurich Film Festival 2024
–––
Kinostart Deutschschweiz: 24.10.2024
Filmfakten: «Landesverräter» / Regie: Michael Krummenacher / Mit: Dimitri Krebs, Luna Wedler, Fabian Hinrichs, Stefan Gubser, Ernst C. Sigrist / Schweiz, Deutschland / 112 Minuten
Bild- und Trailerquelle: 2024 Ascot Elite Entertainment. All Rights Reserved.
Trotz eines holprigen Einstiegs überzeugt «Landesverräter» mit einem grandiosen Finale und beleuchtet ein Stück Schweizer Geschichte, das untypischer und kontroverser nicht sein könnte.
No Comments