Märchen, magischer Realismus italienischer Art, christliche Parabel – wie auch immer man «Lazzaro felice» umschreiben will, das einfallsreiche, melancholische Drama dürfte Regisseurin und Autorin Alice Rohrwacher endgültig als aufregende Stimme im internationalen Kino etablieren.
Irgendwo im norditalienischen Nirgendwo liegt die isolierte Tabakplantage Inviolata – das Reich der mächtigen Zigarettenfabrikantin Marquise de Luna (Nicoletta Braschi). Hier lebt der gutmütige Lazzaro (Adriano Tardiolo), den die anderen Plantagenbewohner zwar gerne die Drecksarbeit machen lassen, ansonsten aber kaum beachten. Doch als die Marquise sich zu einem ihrer seltenen Besuche herablässt, freundet sich ihr Sohn Tancredi (Luca Chikovani) ausgerechnet mit Lazzaro an – eine Freundschaft, die Inviolata für immer verändert.
Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten, ist «Lazzaro felice» doch nicht zuletzt ein unerwartet verspielter Film, der die an ihn gestellten Erwartungen immer wieder geschickt unterläuft. Auch deshalb ist Alice Rohrwachers drittes Werk eine befriedigendere Angelegenheit als etwa ihr Debüt: War «Corpo celeste» (2011) noch ein bierernst-bleiernes Drama über die religiöse Identitätskrise eines jungen Mädchens, vermischen sich hier die biblischen Parallelen mit katholischem Schalk – von den ungehobelten Feldarbeitern bis hin zu den überambitionierten Strauchdieben, die Lazzaro im Laufe seiner «Candide»-artigen Reise durch Rohrwachers Handlung begegnen.
Insgesamt jedoch ist «Lazzaro felice» von einer tiefen, äusserst subtil vorgetragenen Traurigkeit durchzogen. Sie ist spürbar in der fehlenden Wertschätzung für die warmherzige Titelfigur, in der undurchdringlichen Perspektivlosigkeit von Inviolata, in der lähmenden Ziellosigkeit, die der Marquis Tancredi an den Tag legt.
Hier knüpft Rohrwacher sowohl ans Neue Testament als auch an die italienische Filmgeschichte an. In Lazzaro – dem stillen Wanderer reinen Herzens, dem Undank, Unverständnis und Ablehnung entgegen schlagen – spiegeln sich die Protagonisten von Filmen wie «Ladri di biciclette» (1948), «Umberto D.» (1952) oder «Cristo si è fermato a Eboli» (1979) mindestens ebenso sehr wie Jesus, Johannes der Täufer oder eben Lazarus. Dass darüber hinaus ein Wolf – die sagenhafte Symbolfigur des alten Roms – zu einem wichtigen visuellen Motiv erhoben wird, erhärtet den Verdacht, dass «Lazzaro felice» in seinem Kern von seinem Herkunftsland handelt.
«‹Lazzaro felice› bleibt bis zum Schluss ein berührender Film über klar umrissene, emotional nachvollziehbare Menschen auf der Suche nach ein wenig Halt in einer sich stetig wandelnden Welt.»
Dennoch kippt das Ganze zu keinem Zeitpunkt ins allzu Abstrakte. Trotz der thematischen Vielschichtigkeit und dem Sinn fürs Parabelhafte verliert Rohrwacher Lazzaro und dessen einzigartigen Charakterbogen nicht aus den Augen. «Lazzaro felice» bleibt bis zum Schluss ein berührender Film über klar umrissene, emotional nachvollziehbare Menschen auf der Suche nach ein wenig Halt in einer sich stetig wandelnden Welt.
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Kinostart Deutschschweiz: 4.10.2018
Filmfakten: «Lazzaro felice» / Regie: Alice Rohrwacher / Mit: Adriano Tardiolo, Luca Chikovani, Alba Rohrwacher, Nicoletta Braschi / Italien / 127 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi
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