Wer die hiesigen Kinos aus der Quarantäne unterstützen will, hat jetzt die Möglichkeit, den Hauptgewinner des Schweizer Filmpreises 2020 online zu streamen. Es lohnt sich: Delphine Lehericeys Familiendrama «Le milieu de l’horizon» überzeugt mit der feinfühligen Umsetzung eines schwierigen Themas.
«Ich wurde älter, und meine Mutter wurde nicht jünger. Die Kusine Dora kam aus der Schule, und ich kam in die Flegeljahre. Sie begann die Haare hochzustecken, und ich begann die Weiber zu verachten, dieses kurzbeinige Geschlecht.» So eröffnet Erich Kästner in seinen 1957 veröffentlichten Kindheitserinnerungen das Kapitel, in dem er die Pubertät erreicht – doch er hätte genauso gut aus der Sicht des Protagonisten von «Le milieu de l’horizon» schreiben können. Denn der 13-jährige Bauernjunge Gus (Luc Bruchez), dessen Familie während des Hitzesommers 1976 vor dem finanziellen Aus steht, ist ein wandelndes Beispiel für die geschlechtsspezifischen «Flegeleien», die dieser Lebensabschnitt gemeinhin mit sich bringt.
Was sich zunächst in harmloseren Initiationsriten äussert – dem gestohlenen Pornoheft, dem Nerven der grossen Schwester Léa (Lisa Harder) –, wird schon bald zur unbehaglichen Tendenz. Gus’ erst noch liebevolles Verhältnis zu seiner Mutter Nicole (Laetitia Casta) ist bald nur noch geprägt von erotischer Anziehung und blanker Verachtung – hervorgerufen durch ihre enge Beziehung mit ihrer weltgewandten Teilzeit-Arbeitskollegin Cécile (Clémence Poésy). Er traktiert eine Schulfreundin (Sasha Gravat Harsch) mit Fusstritten und schaut nur zu, als sich Cécile von seinem geistig behinderten Bruder Rudy (Fred Hotier) sexuell belästigt fühlt. Selbst wenn Gus sich im allmählich eskalierenden Streit zwischen der sich nach Unabhängigkeit sehnenden Nicole und Ehemann Jean (Thibaut Evrard) der Stimme enthält, legt sein Verhalten nahe, wie stark das tyrannische Macho-Gehabe seines Vaters bereits auf ihn abgefärbt hat.
Es ist immer riskant, einem auf Mitgefühl abzielenden Drama eine derart widerborstige Hauptfigur aufzubürden. Selbst die grossen Dardenne-Brüder, die Meister der naturalistischen Charakterisierung, sind schon an dieser Herausforderung gescheitert, als sie in «Le gamin au vélo» (2011) einen schwer erziehbaren Protagonisten präsentierten, dessen blindwütige Wutanfälle wie eine unselige Drehbuch-Übung wirkten.
Und tatsächlich steht sich der Film mit diesem Fokus mitunter ein wenig selbst im Wege: Da Gus vor allem ein subjektiver Beobachter des kollabierenden Familiengefüges ist, sieht das Publikum die spannendsten Entwicklungen – Nicoles Emanzipierung, Jeans Kontrollverlust, Léas Weg in Richtung Erwachsensein – vorab durch seine Augen. Das Resultat sind oftmals an sich intensive Szenen, die mit einer unstimmigen, emotional distanzierenden Nahaufnahme der missbilligenden Schnute von Luc Bruchez enden. So kommt der Handlung auch ein Teil der Authentizität abhanden, welche ihr die sparsamen Dialoge und Christophe Beaucarnes hervorragende Kameraarbeit verleihen: Zuschauer Gus bewegt sich von dramatischem Höhepunkt zu dramatischem Höhepunkt, als habe er eine Checkliste abzuhaken.
«Zwar begegnen sie dem aufbegehrenden Gus mit der angebrachten Empathie, inszenieren ihn aber niemals so, als würde das Schlagwort ‹Pubertät› sogleich sein ganzes, irgendwann nicht mehr nur latent frauenfeindliches Verhalten entschuldigen.»
Doch obwohl sich die Familiengeschichte, anders als in den vergleichbaren Werken von Ursula Meier («Home», «L’enfant d’en haut»), zum Schluss beinahe im Melodramatischen verliert, beschreibt «Le milieu de l’horizon» einen bemerkenswerten emotionalen Bogen. Grund dafür ist, dass Regisseurin Delphine Lehericey und Drehbuchautorin Joanne Giger, die hier den gleichnamigen Roman von Roland Buti adaptiert, just die richtige Balance finden, um mit ihrer aneckenden Hauptfigur umzugehen. Zwar begegnen sie dem aufbegehrenden Gus mit der angebrachten Empathie, inszenieren ihn aber niemals so, als würde das Schlagwort «Pubertät» sogleich sein ganzes, irgendwann nicht mehr nur latent frauenfeindliches Verhalten entschuldigen. Vielmehr loten sie mit viel Feingefühl aus, wie viel Selbsterkenntnis, Demut und Arbeit nötig sind, um diesen allzu alltäglichen Pfad wieder zu verlassen. Denn wie schädlich diese «Flegeljahre» sein können, das wusste auch schon Erich Kästner: «Dora behielt ihre neue Frisur bei, ich gab meine neue Weltanschauung später wieder auf. Aber für ein paar Jahre wurden wir uns fremd.»
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Wegen des Coronavirus stellen Outside the Box und 23 Deutschschweizer Kinos den Film für zehn Franken zum Streamen zur Verfügung. Infos gibt es hier.
Filmfakten: «Le milieu de l’horizon» / Regie: Delphine Lehericey / Mit: Luc Bruchez, Laetitia Casta, Clémence Poésy, Thibaut Evrard, Fred Hotier, Lisa Harder / Schweiz, Belgien / 92 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Outside the Box
Die etwas holprig vorgetragene Familiengeschichte bedient zwar ein paar Klischees, doch die subtile Charakterstudie im Zentrum macht «Le milieu de l'horizon» zu einem emotional stimmigen Erlebnis.
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