In «Les Misérables», dem französischen Kandidaten für den Fremdsprachen-Oscar, versucht sich Regisseur Ladj Ly an einer umfassenden Bestandsaufnahme der Pariser Banlieue-Problematik, die spätestens seit den wochenlangen Unruhen im Herbst 2005 auch international für Schlagzeilen sorgt.
Es ist eine beeindruckende Sequenz, mit der «Les Misérables» seinen Anfang nimmt. Inmitten eines realen Grossereignisses inszenieren Ladj Ly und Kameramann Julien Poupard ein symbolisch aufgeladenes Stimmungsbild: Sie heften sich an die Fersen von Issa (Issa Perica), einem Jungen im Frankreich-Trikot, der sich von einem der vielen einkommensschwachen Vororten von Paris ins Stadtzentrum aufmacht, um das Finale der Fussballweltmeisterschaft 2018 in der grossen Masse mitzuerleben. Die multikulturelle französische Nationalmannschaft steht dem Überraschungsteam aus Kroatien gegenüber, und die Stadt der Liebe ist im Überschwang: Die Metro hupt den ethnisch durchmischten Schlachtenbummlern fröhlich zu; jeder erfolgreiche Spielzug wird frenetisch beklatscht; und als der Schiedsrichter beim Stand von 4:2 für «Les Bleus» abpfeift, liegen sich unter dem Arc de triomphe wildfremde Menschen zu Tausenden in den Armen. Frankreich ist zum zweiten Mal Weltmeister – und für einen kurzen Moment, den Ly in utopischer Entrücktheit festhält, entsteht der Eindruck einer geeinten «Grande nation».
Und dann bricht der Rest des Sommers an – und mit ihm die Rückkehr in die sozial stratifizierte, geografisch segregierte Realität. Einer, der damit konfrontiert wird, ist der Polizist Stéphane (Damien Bonnard), der, frisch aus der Normandie versetzt, seinen ersten Tag in der Pariser Vorstadt vor sich hat. Gemeinsam mit dem aggressiven Chris (Alexis Manenti) und dem besonnenen Gwada (Djibril Zonga) geht er in der Banlieue Montfermeil – einem der Schauplätze von Victor Hugos titelgebendem Jahrhundertroman «Les Misérables» (1862) – auf Streife. So erhält das Publikum aus Stéphanes Perspektive Einblick in den Alltag einer eingespielten, aber ruhelosen Gesellschaft: Hier drangsaliert Chris kiffende Teenager; dort muss Gwada zwischen der muslimischen Gemeinde und den ansässigen Roma vermitteln, ohne die Autorität des «Bürgermeisters» (grossartig: Steve Tientcheu) zu untergraben.
Ly integriert den Sozialrealismus von Mathieu Kassovitz’ fast schon kanonischem Banlieue-Drama «La haine» (1995) und Xavier Beauvois’ weniger bekannter Polizeitragödie «Le petit lieutenant» (2005) in eine überwiegend konventionelle Dramaturgie, in deren Rahmen die Protagonisten auf eine kuriose Schnitzeljagd durch Montfermeil geschickt werden. Dieser Bruch mit dem dokumentarisch angehauchten Banlieue-Sittengemälde wirkt bisweilen etwas aufgesetzt, gerade im Vergleich mit dem organischeren «La haine». «Les Misérables» funktioniert dann am besten, wenn sich Stéphane, Chris und Gwada mit der Bevölkerung auseinandersetzen müssen, die sie im Namen der allgemeinen Sicherheit regelmässig einschüchtern.
«So ernüchternd ‹Les Misérables› auch sein mag, so kraftvoll ist seine Kritik am Status quo: Ohne Differenziertheit und Empathie wird der Traum vom geeinten Frankreich unerfüllt bleiben.»
Dieser nuancierte Blick auf das Pariser Vorstadtdilemma – dass die Polizei gesellschaftliche Probleme öfter verschärft als löst – findet seinen Höhepunkt in Lys ebenso einfühlsamer wie klarsichtiger Darstellung der Kinder von Montfermeil, insbesondere jener von Issa. Der junge Fussballfan, der wohl nicht umsonst den arabischen Namen von Jesus trägt, gerät zwischen die Räder einer sich selbst erhaltenden Kultur der Angst und der Wut, in der sich die Kategorien «Täter» und «Opfer» längst nicht mehr gegenseitig ausschliessen. So ernüchternd «Les Misérables» auch sein mag, so kraftvoll ist seine Kritik am Status quo: Ohne Differenziertheit und Empathie wird der Traum vom geeinten Frankreich unerfüllt bleiben.
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Kinostart Deutschschweiz: 9.1.2020
Filmfakten: «Les Misérables» / Regie: Ladj Ly / Mit: Damien Bonnard, Alexis Manenti, Djibril Zonga, Issa Perica, Al-Hassan Ly, Steve Tientcheu, Almamy Kanoute, Jeanne Balibar, Raymond Lopez / Frankreich / 103 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi Zürich AG
Die Dramaturgie mag nicht ganz zum Sozialrealismus von «Les Misérables» passen, doch Ladj Lys Film beeindruckt als atmosphärischer, nuancierter Beitrag zur Pariser Banlieue-Debatte.
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