Der italienische Regisseur Emanuele Crialese widmet sich in seinem neuesten Film «L’immensità» einer Geschichte, die von seiner eigenen Kindheit inspiriert ist. Was auf den ersten Blick nach einem klassischen Coming-of-Age-Drama aussieht, ist jedoch weit mehr als das. Es geht um die Verbundenheit zwischen einem Kind und dessen Mutter, die beide in einer Welt leben, in der für sie kein Platz zu sein scheint.
In den 1970er Jahren lebt die zwölfjährige Adriana (Luana Giuliani) mit ihren Eltern und zwei jüngeren Geschwistern in einer neuen Siedlung in Rom. Die Beziehung der Eltern, Clara (Penélope Cruz) und Felice (Vincenzo Amato) ist angespannt. Er ist ihr untreu, eine Trennung ist den Kindern sowie den Konventionen zuliebe dennoch keine Option. In ihrer Einsamkeit ist es die Liebe zu ihren Kindern, die Clara durch ihren Alltag trägt. Doch auch Adriana fühlt sich einsam. Sehnsüchtig wartet sie auf ein Zeichen von Ausserirdischen. Denn sie ist sich sicher, dass sie aus einer anderen Galaxie stammt, so fremd fühlt sie sich in ihrer Welt und ihrem Körper.
«In ‹L’immensità› sind es keine anderen Länder oder Kulturen, die den Protagonist*innen das Gefühl geben, fremd zu sein. Es sind vielmehr das eigene Umfeld und die Konventionen der Gesellschaft, in denen sie sich bewegen.»
Damit greift Regisseur Emanuele Crialese eine persönliche Ebene auf. Seine eigene Kindheit inspirierte ihn für diesen Film, an der Premiere bei den letztjährigen Filmfestspielen von Venedig outete er sich als trans. Dem Thema des Fremdseins widmete sich Crialese in anderer Form bereits in seinen letzten beiden Spielfilmen. In «Nuovomondo» (2006) und «Terraferma» (2011) konzentrierte er sich thematisch auf die Migration und fremde Welten.
In «L’immensità» sind es keine anderen Länder oder Kulturen, die den Protagonist*innen das Gefühl geben, fremd zu sein. Es sind vielmehr das eigene Umfeld und die Konventionen der Gesellschaft, in denen sie sich bewegen. An einem freien Nachmittag erkundet Adriana mit ihren beiden Geschwistern die Nachbarschaft. Beim Durchqueren eines Maisfelds trifft Adriana im Arbeiterdorf auf der anderen Seite auf die gleichaltrige Sara. Und fast so, als ob das Maisfeld symbolisch für den Übergang zur neuen Geschlechtsidentität steht, stellt sich Adriana dort als Andrea vor – er ist ein Junge.
«Bald schon äussert Andrea seine Zweifel an seiner Geschlechtsidentität auch gegenüber seiner Mutter. Doch auch wenn Clara diese nicht richtig ernst nimmt, so merkt man ihrem liebevollen Umgang dennoch an, dass sie es unter anderen Umständen, in einer anderen Zeit, vielleicht doch getan hätte.»
Clara verbietet ihren Kindern jedoch die Streifzüge, mit der Warnung, dass es auf der anderen Seite gefährlich sei. Es ist eine Warnung auf der symbolischen Ebene gleichermassen. Dies hält Andrea aber nicht davon ab, seine neue Freundin Sara auf der anderen Seite des Maisfelds regelmässig zu besuchen. Dort hat er die Freiheit hat, sich an seine eigentliche Identität heranzutasten. Bald schon äussert Andrea seine Zweifel an seiner Geschlechtsidentität auch gegenüber seiner Mutter. Doch auch wenn Clara diese nicht richtig ernst nimmt, so merkt man ihrem liebevollen Umgang dennoch an, dass sie es unter anderen Umständen, in einer anderen Zeit, vielleicht doch getan hätte.
Emanuele Crialeses persönlicher Bezug zu seinem Film wird auch in der Ästhetik deutlich. Die Bildsprache und das Szenenbild sind beeindruckend, eine Ode an das Italien der 1970er Jahre mit seinen kräftigen, warmen Farbtönen und den geometrischen Formen. Eine Portion italienisches Kulturgut darf dabei auch nicht fehlen: Während Andrea Auftritte der TV-Legende Raffaella Carrà im Fernsehen sieht, werden er und seine Mutter in seinen Tagträumen plötzlich zu den Performern der Songs. Die Szenen lassen einen schmunzeln: Die beiden Aussenseiter*innen stehen plötzlich im Mittelpunkt der italienischen Kultur – für einmal sind sie die Held*innen ihrer eigenen Geschichte.
In Szenen wie diesen wird schnell klar, dass zwischen Andrea und Clara eine besondere Verbindung besteht, mit der Einsamkeit als gemeinsamen Nenner. Anders als der Rest der Familie ist Andrea die einzige Person, die seine Mutter wirklich durchschaut. «Du schminkst dich nur dann, wenn du ausgehst oder wenn du geweint hast», beobachtet er scharf, als seine Mutter eines Abends nachdenklich in der Küche steht. Die Frage, ob sie vorhabe, auszugehen, beantwortet sie mit Nein. Auch wir sehen Clara damit durch die Augen ihres ältesten Kindes: Wir sehen ihre Schönheit, erkennen aber auch ihre Traurigkeit. Andrea nimmt auch Claras Verletzlichkeit wahr, wovor er sie mit allen Mitteln zu schützen versucht und in gewissen Situationen die Rolle des Erwachsenen übernimmt.
«Manch eine*r mag in Claras Handlungen ihre Überforderung sehen. Vermutlich zeugen sie aber mehr von der bedingungslosen Liebe für ihre Kinder in einer Welt, die Anstand und Normen vor die Kreativität des Individuums stellt.»
Doch so sehr Andrea auch bemüht ist, seine Mutter vor allem Unheil zu bewahren – es gelingt ihm nicht immer. Genau wie Andrea fühlt auch Clara sich in ihrer Welt fremd. Die Beziehung zu ihrem Mann liegt in Trümmern und auch innerhalb der erweiterten Familie ist sie die Aussenseiterin. Ihr Erziehungsstil ist anders als jener, der ihr Umfeld von ihr erwartet. Anstatt ihre Kinder mit strenger Hand zu führen, lässt sie ihnen Raum für Kreativität und Fantasie. Der Tisch wird tanzend gedeckt, und die jüngste Tochter Diana (Maria Chiara Goretti) wird nicht daran gehindert, mit ihrem Essen zu spielen. Manch eine*r mag in Claras Handlungen ihre Überforderung sehen. Vermutlich zeugen sie aber mehr von der bedingungslosen Liebe für ihre Kinder in einer Welt, die Anstand und Normen vor die Kreativität des Individuums stellt. Trotzdem bleibt es eine Frage der Zeit, bis eben diese Welt über Clara zusammenbricht. Sie muss die Entscheidung treffen, sich diesen Normen zu fügen oder daraus auszubrechen und die Konsequenzen zu tragen.
«L’immensità», was zu Deutsch «die Unermesslichkeit» bedeutet, ist genau das: ein Film über die schiere Grösse, in der sich unsere Lebensumstände manchmal präsentieren. Es ist aber auch ein Film über die Leichtigkeit des Lebens und darüber, wie wenig es doch manchmal braucht, der Schwere dieser Unermesslichkeit von Zeit zu Zeit zu entfliehen. Die Geschichte lässt einem mit teils losen Enden und gemischten Gefühlen zurück – und das im bestmöglichen Sinne.
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Kinostart Deutschschweiz: 1.6.2023
Filmfakten: «L’immensità» / Regie: Emanuele Crialese / Mit: Luana Giuliani, Penélope Cruz, Vicenzo Amato, Maria Chiara Goretti, Penelope Nieto Conti / Italien, Frankreich / 99 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Pathé Schweiz / © Angelo Turetta
«L'immensità» von Emanuele Crialese ist ein bewegender Film über Einsamkeit und das Dazugehören, der nicht zuletzt von seiner Ästhetik lebt.
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