Da ist er, der «gruseligste Film des Jahrzehnts» – schenkt man der Marketingkampagne des Horrorthrillers «Longlegs» Glauben. Es ist ein kühnes Statement in einem Genre, das mit einer zunehmenden Abgestumpftheit seiner Zuschauerschaft kämpfen muss. Entsprechend hoch sind die Erwartungen, entsprechend gross ist die Ernüchterung. Denn «Longlegs» wird dem aufgedrückten Prädikat nicht wie erhofft gerecht. Löst man sich jedoch von dieser Marketinginszenierung, bietet der Film ein intensives Seh- und Hörerlebnis, das man nicht verpassen sollte.
Lee Harker (Maika Monroe, bekannt aus «It Follows») ist FBI-Agentin mit einem besonders intuitiven Gespür. Aus diesem Grund soll sie Agent Carter (Blair Underwood) in einem bisher ungelösten Serienmordfall weiterhelfen: Seit 30 Jahren scheint jemand namens «Longlegs» Familienväter dazu zu bringen, Frau, Töchter und sich selbst brutal hinzurichten.
Wie es dem Täter gelingt, die Väter zu beeinflussen, ist dem FBI unerklärlich – denn von Longlegs (Nicolas Cage) selbst fehlt an den Tatorten jegliche Spur. Allerdings hinterlässt er den Ermittlern seit jeher kodierte Briefe, die sich als die einzigen Hinweise auf dieser bislang erfolglosen Jagd entpuppen und schliesslich Longlegs‘ Verbindung zu Satanismus und okkulten Praktiken offenbaren. Der Fall wird immer mysteriöser, und kurz nachdem sich Harker in die Ermittlungen gestürzt hat, muss sie feststellen, dass sie nicht die Einzige ist, welche die Fährte aufgenommen hat: Longlegs scheint sie nämlich schon wesentlich länger zu verfolgen.
Mit «Longlegs» hat Regisseur Osgood Perkins («I Am the Pretty Little Thing That Lives in the House») einen Film geschaffen, der bereits im Vorfeld einiges an Aufmerksamkeit erregt hat. Grund ist die vom Verleiher Neon mit viel Kalkül inszenierte Marketingkampagne, die dem Film-Release in den USA vorauseilte. Sie warb mit nichts weniger als dass «Longlegs» der gruseligste Film des Jahrzehnts sein soll und vermochte dadurch bereits zahlreiche Horrorfans ins Kino zu locken: Kryptische und unheimliche Trailer, eine eigens für die fiktiven Mordfälle konzipierte Website und nicht zuletzt das Geheimnis um das grausige Aussehen des namensgebenden Bösewichts selbst befeuerten den Hype um Perkins‘ vierten Langspielfilm.
«Longlegs» wurde in den Vereinigten Staaten entsprechend heiss erwartet. Kein Wunder also, dass der Film am Premierenwochenende ein stattliches Einspielergebnis von über 22 Millionen Dollar erzielte. Doch was sich nach diesem fulminanten Start herauskristallisiert, sind die diskrepanten Meinungen, die online kursieren: Das Publikum ist sich uneins, ob «Longlegs» dem inszenierten Hype gerecht wird. Anlass zur Diskussion gibt unter anderem die Figur Longlegs selbst, die weniger gruselig ausfällt als erwartet.
«Hinter weissem Teint, wulstigen Lippen und einer plastischen Nase verbirgt sich ein Nicolas Cage, der das Monströse der Figur vielmehr durch sein gelungenes verstörendes Schauspiel hervorbringt als durch seine äusserliche Erscheinung.»
Die Verwandlung des grossen Nicolas Cage («The Unbearable Weight of Massive Talent», «Dream Scenario») in Longlegs wurde besonders sorgfältig verschleiert. Die Trailer verraten wenig, während Neon die Fans bisweilen nur mit kleinen Gesichtsschnipseln der Figur fütterte und so die optischen Erwartungen an die Schreckensgestalt schürte. Das volle Ausmass von Cages Erscheinung als Filmmonster erfahren die Zuschauer*innen allerdings erst im Kino. In Anbetracht dieser vielversprechenden Geheimnistuerei fällt die Maske, die Cage in einen teufelsanbetenden Serienmörder verwandelt, aber überraschend verhalten, ja sogar zahm aus. Denn hinter weissem Teint, wulstigen Lippen und einer plastischen Nase verbirgt sich ein Nicolas Cage, der das Monströse der Figur vielmehr durch sein gelungenes verstörendes Schauspiel hervorbringt als durch seine äusserliche Erscheinung.
Trotz Cage in Hochform erweist sich Longlegs aber als die grösste Schwachstelle des Films. Obwohl die Figur äusserlich nicht so überzeugen kann wie erhofft, scheint sie paradoxerweise nur auf das Oberflächliche und Sichtbare reduziert zu werden. Hintergründe, wie die Persona «Longlegs» entstanden ist, und Einblicke in deren Handlungsmotive werden ausgespart. Somit fehlt es der Figur an entscheidender Tiefe. Dabei böte gerade ein Serienmörder viel Potenzial, Charakterzüge psychologisch auszuschlachten und dadurch der Handlung mehr Nachdruck zu verleihen.
Doch «Longlegs» ist eben nicht nur ein Thriller à la David Finchers «Zodiac» (2007), sondern auch ein Horrorfilm – dafür sorgen die übernatürlichen, okkulten Erzählmomente. Somit zieht sich der Film geschickt aus der Verantwortung, rationale Erklärungen liefern zu müssen. Entsprechend muss man sich mit einer satanisch motivierten Mordlust des Bösewichts zufriedengeben. Das wirkt bisweilen etwas abgedroschen und so, als schiene es die bequemlichste Lösung.
«Der Film kann insbesondere visuell und auditiv überzeugen: Ruhige, düstere, lange Einstellungen fesseln den Blick und erzeugen eine unheimliche und spannungsgeladene Atmosphäre.»
Über diese Schwächen kann man aber letztlich dennoch hinwegsehen, denn der Film kann insbesondere visuell und auditiv überzeugen: Ruhige, düstere, lange Einstellungen fesseln den Blick und erzeugen eine unheimliche und spannungsgeladene Atmosphäre. Oft sind die Protagonistin oder andere Figuren prominent im Bild platziert, erlauben aber die Sicht auf den Hintergrund. Perkins und Kameramann Andrés Arochi spielen anhand dieser Bildkompositionen geschickt mit der Erwartungshaltung der Zuschauer*innen: So starrt man fieberhaft auf Harkers Haus oder die offene Tür in ihrem Rücken und wartet auf den antizipierten Schreckmoment. Dessen kann man sich jedoch nie sicher sein, was die Spannung oft schier unerträglich macht. Die Soundeffekte tragen ebenfalls einen grossen Teil zur Stimmung bei und sorgen für einige Momente des Schauderns.
«Ein intensives Filmerlebnis.»
Sein grösstes Gruselpotenzial schöpft «Longlegs» also aus der nervenaufreibenden Spannung, welche die Bilder und die Soundeffekte generieren. Das sorgt für ein intensives Filmerlebnis. Allerdings darf man keine genretypische Jump-Scare-Parade erwarten, was hartgesottene Horrorfans ernüchtern dürfte. Trotzdem: Obwohl sich «Longlegs» nicht als der Schocker herausstellt, den die Marketingkampagne anpries, und der Film hie und da Schwächen aufweist, schafft er es, einen die meiste Zeit in seinen Bann zu ziehen.
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Kinostart Deutschschweiz: 8.8.2024
Filmfakten: «Longlegs» / Regie: Osgood Perkins / Mit: Maika Monroe, Nicolas Cage, Blair Underwood, Alicia Witt / USA / 101 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Ascot Elite Home Entertainment AG
Osgood Perkins' «Longlegs» ist vielleicht nicht der erwartete Gruselschocker. Wer sich aber darauf einlässt, wird zumindest mit teuflisch guter Spannung belohnt.
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