Man kennt Steve McQueen als Regisseur von eher getragenen Filmen wie «Shame» oder «12 Years a Slave». In «Lovers Rock», dem hinreissenden zweiten Film seiner fünfteiligen Anthologie «Small Axe», unterläuft er diesen Ruf mit Nachdruck.
Was für ein Gangwechsel, sich nach dem dialoglastigen «Mangrove» gleich den nächsten «Small Axe»-Film zu Gemüte zu führen. Denn während Ersterer seinem Publikum die übergreifende Thematik der BBC-Anthologie – die jüngere Geschichte von Londons karibischer Community – im etablierten Modus des historischen Dramas näherbringt, setzt «Lovers Rock» ganz auf das transzendente Potenzial des Kinos: Atmosphäre statt Handlung, Immersion statt Erzählung, «showing» statt «telling».
Durch die Linse von Shabier Kirchners scheinbar freischwebender Kamera erlebt man hier eine House-Party irgendwo im Westlondon der frühen Achtzigerjahre. Als designierte Protagonistin dient die junge Martha (Amarah-Jae St. Aubyn), die sich in ihren besten Kirchenkleidern aus dem Haus ihrer Eltern schleicht, um mit ihrer Freundin Patty (Shaniqua Okwok) an ebenjener Fete die Nacht durchzufeiern.
Doch immer wieder lässt der Film von den beiden ab und heftet sich an die Fersen anderer: Mal beobachtet er das Geburtstagskind Cynthia (Ellis George), zu dessen Ehren die Tanzparty überhaupt stattfindet; mal steht Franklyn (Micheal Ward) im Zentrum, der ein Auge auf Martha geworfen hat; und immer wieder zieht es Steve McQueen und Kirchner auf die Tanzfläche zurück, wo der DJ (Kadeem Ramsay) die Anwesenden mit Soul-, Reggae- und Dancehall-Hits an den Rand der Ekstase bringt.
Am Rande dieser kollektiven Ausgelassenheit spielen sich kleine und grössere Dramen ab, darunter auch sexuelle Übergriffe von Partybesuchern und rassistische Bedrohungen von aussen. Doch McQueen und Co-Autor Courttia Newland tun gut daran, diese negativen Aspekte karibischen Lebens in Grossbritannien überwiegend auf Sparflamme zu schalten und ihren Protagonist*innen die Freude und die Erfüllung zu gönnen, die ihnen in der auf schwarze Tragödien getrimmten Popkultur allzu oft verwehrt bleiben.
«Mit einer Laufzeit von nur 68 Minuten ist der Film so flüchtig wie die Erfahrung, die er – ungemein erfolgreich – abzubilden versucht. Doch so wie die zahlreichen Figuren wohl bis zum nächsten Wochenende von den Erinnerungen an Samstagnacht zehren werden, so setzt sich ‹Lovers Rock› mit seiner hypnotisch unmittelbaren Inszenierung im Gedächtnis fest.»
Hier übertönt der stetig wummernde Soundtrack praktisch jeden gesellschaftlichen Misston – besonders dann, wenn sich «Lovers Rock» ganz der Musik hingibt, Songs wie Carl Douglas’ «Kung Fu Fighting» oder Janet Kays «Silly Games» in voller Länge laufen lässt und ausführlich zeigt, wie dazu gelacht, mitgesungen, eng umschlungen oder, fast schon wie in Gaspar Noés «Climax» (2018), wie besessen getanzt wird.
Mit einer Laufzeit von nur 68 Minuten ist der Film so flüchtig wie die Erfahrung, die er – ungemein erfolgreich – abzubilden versucht. Doch so wie die zahlreichen Figuren wohl bis zum nächsten Wochenende von den Erinnerungen an Samstagnacht zehren werden, so setzt sich «Lovers Rock» mit seiner hypnotisch unmittelbaren Inszenierung im Gedächtnis fest. Szenen wie die spontane Falsett-Einlage nach dem Ende von «Silly Games» oder der geradezu religiös anmutende Moshpit, mit dem die Reverie ein Ende findet, werden – wie jede gute Party – noch lange nachhallen.
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«Lovers Rock» lief am 22.11.2020 auf BBC One. Ein Streaming-Release ist auf Amazon Prime geplant.
Filmfakten: «Lovers Rock» / Regie: Steve McQueen / Mit: Amarah-Jae St. Aubyn, Micheal Ward, Shaniqua Okwok, Kedar Williams-Stirling, Ellis George, Kadeem Ramsay / Grossbritannien, USA / 68 Minuten
Bild- und Trailerquelle: BBC, Amazon Prime / © Des Willie/BBC/McQueen Limited
«Lovers Rock» begeistert dank subtiler Erzählweise, immersiver Inszenierung und ansteckender musikalischer Ausgelassenheit. Teil zwei von «Small Axe» ist einer der besten Filme des Jahres.
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