Italianità an der ligurischen Küste: In «Luca» schickt Pixar zwei Seemonster-Jungs auf die Suche nach einer Vespa. Enrico Casarosas verspielter Animationsfilm über eine Sommerfreundschaft ist visuell beeindruckend und sorgt für gute Laune, ohne gross in die Tiefe zu gehen.
Die Corona-Pandemie fordert ihr nächstes Pixar-Opfer: Mit «Luca» landet bereits der zweite Film des Animationsstudios statt in den Kinos auf Disney+ – was angesichts der in der Schweiz bereits wieder geöffneten Kinos doppelt schade ist. Doch weil sich die Schweiz aus synchronisationstechnischen Gründen bei der Veröffentlichung an Deutschland orientiert, wo die Kinos noch immer geschlossen sind, erscheint auch «Luca» bei uns regulär erst im September. Dabei passt das charmante Langfilmdebüt von Enrico Casarosa zu den heissen Sommertagen wie eine eisgekühlte Limonade. Immerhin ist der Film, anders als etwa «Mulan» (2020), im Disney+-Abo inbegriffen.
Casarosas Film markiert auch gewissermassen den Beginn eines neuen Pixar-Zeitalters, in dem nur noch wenige der originalen Gründungsmitglieder beim Studio verblieben sind, während eine neue Generation von Filmschaffenden die Zügel übernimmt, um persönliche Geschichten zu erzählen. Dan Scanlon bewies unlängst mit seinem sehr ehrlichen Elfen-Roadmovie «Onward» (2020), dass in ihm ein grosser Erzähler steckt; und mit Domee Shi und Angus MacLane, deren Langfilmdebüts «Turning Red» respektive «Lightyear» für 2022 geplant sind, stehen zwei vielversprechende Kreative in den Startlöchern. Und eben auch Enrico Casarosa, der 2011 mit dem feinfühligen Kurzfilm «La Luna» von sich reden machte und nun mit «Luca» zum ersten Mal die Regie eines langen Filmes übernimmt.
«Luca» erzählt von der Sommerfreundschaft zweier Jungs, die ein besonderes Geheimnis mit sich tragen: Luca (gesprochen von «Room»-Entdeckung Jacob Tremblay) und Alberto (Jack Dylan Grazer, bekannt aus «It») sind sogenannte Seemonster, Fisch-Mensch-Wesen, die an der Oberfläche eine menschliche Gestalt annehmen. Auf der Suche nach Abenteuern – und einer Vespa – landen die beiden im Fischerdorf Portorosso an der italienischen Riviera, dessen beschaulichen Alltag sie mächtig auf den Kopf stellen.
«Auch wenn Casarosa mit dem Film mitunter seine eigene Kindheit an der ligurischen Küste aufarbeitet, wirken die Klischees über die italienische Lebensart rasch ermüdend.»
Es gibt kaum ein Klischee über die italienische Lebensart, das «Luca» auslässt – sei das die Liebe zum Essen, die Faszination für die Vespa oder die leidenschaftliche Musik. Auch wenn Casarosa mit dem Film mitunter seine eigene Kindheit an der ligurischen Küste aufarbeitet, wirken diese Elemente rasch ermüdend und wie ein arg bemühter Versuch, die angedachte Italianità der Geschichte in Form eines Postkarten-Italiens für ein breites (lies: nicht-europäisches) Publikum greifbar zu machen. Das ist schade, denn Casarosa beweist in seinem Film auch, dass es subtiler und charmanter ginge: Der Soundtrack etwa besticht mit sorgfältig ausgewählten Perlen der italienischen Musikgeschichte, die jenseits der ausgetretenen Celentano-Nannini-Pfade für mediterrane Lebensfreude sorgen.
Den Rest erledigt Casarosa unter anderem mit seinen charismatischen Protagonist*innen: Nicht nur die beiden Meerjungs mit ihren Flausen im Kopf, auch die ihnen in nichts nachstehende Giulia (Emma Berman) – allesamt liebenswürdige Aussenseiter – sorgen für viel gute Laune in einem rasanten Film. Da verschmerzt man auch, dass Casarosa vor allem diese Dreiecksfreundschaft, im Speziellen die Beziehung zwischen den beiden Buben, nicht ganz zu Ende erzählt und einen liebevoll aufgebauten Konflikt äusserst antiklimatisch beiseite räumt.
Überhaupt gelingt es Casarosa und den beiden Drehbuchautoren Jesse Andrews («Me and Earl and the Dying Girl») und Mike Jones («Soul») nur selten, an die erzählerischen Höhenflüge früherer Pixar-Werke anzuknüpfen. Der Geschichte über das Aufeinanderprallen zweier ungleicher Welten und die Angst vor dem Unbekannten wird hier wenig Neues entlockt, das man nicht schon anderswo («Finding Nemo», «The Little Mermaid») besser gesehen hätte.
«Luca» ist deswegen aber nicht schlecht: Der Film hat ein angenehmes Tempo und schafft eine glaubwürdige Titelfigur mit Ecken und Kanten. Auch die Nebenfiguren überzeugen, allen voran Marco Barricelli («The Book of Daniel») als Giulias hünenhafter und liebenswerter Vater Massimo und Saverio Raimondo («Dov’è Mario?») in der Rolle des widerlichen Ercole Visconti. Einzig, dass Sacha Baron Cohen («Borat») für zwei mickrige Sätzchen vors Mikrofon gezerrt wurde, befremdet – auch wenn seine Rolle des tiefseeliebenden Psycho-Onkels Ugo eines der Highlight des Films ist. Nun, seis drum – Pixar kann es sich offensichtlich leisten.
«Enrico Casarosa hat den haptischen Look seines oscarnominierten Kurzfilms ‹La Luna› geschickt weiterentwickelt und zaubert in satten Farben eine Welt voller liebevoller Details.»
Visuell ist «Luca» ebenfalls gelungen. Casarosa hat den haptischen Look seines oscarnominierten Kurzfilms «La Luna» geschickt weiterentwickelt und zaubert in satten Farben eine Welt voller liebevoller Details. Allein das charmante Küstenstädtchen Portorosso ist eine Augenweide. Apropos Portorosso: Casarosas Liebe für das Schaffen von Hayao Miyazaki («Princess Mononoke») endet nicht bei der Namens-Hommage an «Porco Rosso» (1992); der Pixar-Regisseur macht keinen Hehl daraus, dass sein Film massgeblich vom Werk des japanischen Animationsmeisters inspiriert ist. Das zeigt sich nicht nur visuell; auch erzählerisch erinnert «Luca» immer mal wieder an Miyazaki. Eine fantastische Geschichte über unerwartete Freundschaften und Nicht-Zugehörigkeit, die in einem Küstenstädtchen spielt? Inklusive mürrischer Katze? Hat da jemand «Kiki’s Delivery Service» (1989) gesagt?
Eine Filmreferenz lässt Casarosa seinem Film indes nicht unterstellen: Dass «Luca» bisweilen wie eine familienfreundliche Animationsversion von «Call Me by Your Name» (2017) daherkommt, ist dem Regisseur zufolge ein kompletter Zufall. In Anbetracht der sexuellen Komponente von Luca Guadagninos Kultromanze ist man versucht, Casarosa dies auch zu glauben. So viel sei gesagt: Angebissene Pfirsiche gibt es bei «Luca» keine.
Nach dem ambitionierten, aber leider überladenen «Soul» ist «Luca» eine Wohltat: ein kleiner, fantasievoller Film über zwei gute Freunde und einen nie enden wollenden Sommer am Meer. Enrico Casarosas Regiedebüt gelingt nicht alles gleich gut – aber für gute Laune sorgt es auf jeden Fall.
Über «Luca» wird auch in Folge 28 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Jetzt auf Disney+ / Kinostart Deutschschweiz: 30.9.2021
Filmfakten: «Luca» / Regie: Enrico Casarosa / Mit: Jacob Tremblay, Jack Dylan Grazer, Emma Berman, Saverio Raimondo, Marco Barricelli, Maya Rudolph, Jim Gaffigan, Sacha Baron Cohen / USA / 101 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Cr. 2020/21 Pixar/Disney
Mit «Luca» ist Enrico Casarosa ein erfrischendes und leichtfüssiges, wenn auch etwas ungelenk erzähltes Sommerabenteuer über Freundschaft und Zugehörigkeit gelungen.
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