Nur knapp eine Stunde dauert der international gefeierte Schweizer Animationsfilm und Oscarkandidat „Ma vie de Courgette“ – doch das reicht Regisseur Claude Barras, um eine berührende Aussenseitergeschichte auf den Spuren von François Truffaut zu erzählen.
Auf den ersten Blick lässt nicht viel darauf schliessen, dass der zehnjährige Courgette (Stimme: Gaspard Schlatter) viel mit Antoine Doinel aus Truffauts „Les quatre cents coups“ (1959) gemeinsam hat. Immerhin lebt der Junge in einer bunten, kinderzeichnungsartig stilisierten Stop-Motion-Welt, die von Sophie Hungers sanften Gitarrenklängen untermalt wird. Doch davon soll sich niemand täuschen lassen: Noch in der ersten Szene lassen Barras und Co-Autorin Céline Sciamma – die Regisseurin der Coming-of-Age-Dramen „Tomboy“ (2011) und „Bande des filles“ (2014) – Courgettes alkoholkranke Mutter einen letztlich herzzerreissenden Tod sterben, woraufhin ihr Sohn in ein Waisenhaus gebracht wird.
Was folgt, ist ein optimistischer Film, der in seinen prägnanten Episoden aber niemals seine tragische Dimension aus den Augen verliert. „Ma vie de Courgette“ zeigt Szenen aus einem Kinderleben, das sich darum dreht, Verständnis und Liebe für Menschen aufzubringen, denen das Leben übel mitgespielt hat: für Simon (Paulin Jaccoud), den Waisenhausrüpel, dessen Eltern drogenabhängig sind; für Béa (Lou Wick), deren Mutter ausgeschafft wurde; für Alice (Estelle Hennard), die von ihrem Vater vergewaltigt wurde; für Camille (Sixtine Murat), die lieber im Heim als bei ihrer tyrannischen Tante wohnt.
Barras‘ erster Langspielfilm ist ein „typisch französisches“ Werk, das sich weniger von einem stringenten Plot als von seinen starken Figuren treiben lässt und in dem Komik und Tragik oft sehr nahe beieinander liegen. Wie Truffauts Doinel-Filme propagiert „Ma vie de Courgette“ Empathie und feiert auf leise, bescheidene Art die Schönheit der selbst erwählten Familie. Es ist ein nachdenklicher, bald melancholischer, bald tröstlicher Film für unsichere Zeiten – eine wunderschöne filmische Entsprechung zum perfekt gewählten Abspannsong, Hungers zarter Coverversion von Noir Désirs „Le vent nous portera“. „Je n’ai pas peur de la route / Faudrait voir, faut qu’on y goûte“, heisst es da. „Et tout ira bien là“ – dank Courgette glauben wir daran.
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Kinostart Deutschschweiz: 16.2.2017
Filmfakten: „Ma vie de Courgette“ / Regie: Claude Barras / Mit den Stimmen von: Gaspard Schlatter, Sixtine Murat, Paulin Jaccoud, Michel Vuillermoz / Schweiz, Frankreich / 66 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Praesens Film
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