Pedro Almodóvar erzählt eine emotional vertrackte Geschichte über Mutterschaft und die Nachwehen der Franco-Diktatur. Die Mischung ist ungewöhnlich, die Umsetzung hervorragend: «Madres paralelas» ist einer der besten Filme des Jahres.
«Ich erinnere mich, weil meine Mutter mir davon erzählt hat.» Dieser Satz fällt mehrmals in «Madres paralelas» – und das aus gutem Grund, fasst er doch den faszinierenden thematischen Kern des Films perfekt zusammen. Hier vereint ein sichtlich nachdenklich gestimmter Pedro Almodóvar, der spanische Star-Regisseur hinter preisgekrönten internationalen Hits wie «Volver» (2006) und «Dolor y gloria» (2019), zwei seiner grossen erzählerischen Vorlieben: Geschichten über Frauen und die düstere Vergangenheit Spaniens.
Das verbindende Element in «Madres paralelas» ist Janis (Almodóvar-Muse Penélope Cruz), eine alleinstehende Werbefotografin, die sich schon in der ersten Szene gemeinsam mit dem Anthropologen Arturo (Israel Elejalde) über die konservative Regierung von Mariano Rajoy aufregt: Diese rühmte sich nämlich, «null Euro» für die Vergangenheitsaufarbeitung – sprich die Bewältigung des langen Schattens der Franco-Diktatur – ausgegeben zu haben. Doch genau eine solche Bewältigung will Janis bewerkstelligen: Da es im Heimatort ihrer Urgrosseltern ein Massengrab geben soll, in dem aus der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs immer noch Opfer der faschistischen Falangisten liegen, darunter Janis‘ Urgrossvater, soll Arturo eine offizielle Ausgrabung in die Wege leiten.
Ganz im Sinne des Melodramas Marke Almodóvar führt die Zusammenarbeit zwischen Janis und Arturo zu einer stürmischen Affäre und zur unerwarteten Schwangerschaft von Janis. Auf der Gebärstation im Spital lernt die gut 40-Jährige den ungewollt schwangeren Teenager Ana (Milena Smit) kennen – eine Zufallsbekanntschaft, die das Leben beider Frauen nachhaltig beeinflusst.
«Wo traditioneller eingestellte Regisseure das gewichtige Thema der franquistischen Gewalt als Zugang zu einer veranschaulichend persönlichen Geschichte benutzt hätten, dreht Almodóvar den Spiess um.»
Wo traditioneller eingestellte Regisseure das gewichtige Thema der franquistischen Gewalt als Zugang zu einer veranschaulichend persönlichen Geschichte benutzt hätten, dreht Almodóvar den Spiess um. Sehr lange bleibt unklar, welche Rolle die einer langen administrativen Vorbereitung unterworfene Massengrab-Exhumierung im Gesamtbild von «Madres paralelas» zukommt. Zunächst konzentriert sich der Film ganz auf Janis, ihr kompliziertes Verhältnis mit Arturo, ihre Aupair-Sorgen, ihre Mutterschaft, ihre Beziehung zu Ana, die sich vor lauter Frustration über ihre unstete Mutter Teresa (die grossartige Aitana Sánchez-Gijón) zu Hause aus dem Staub gemacht hat.
Neben der gewohnten visuellen Brillanz, insbesondere in Sachen Beleuchtung und Farbgebung, sowie dem herausragenden Zusammenspiel der stoisch-entschlossenen Penélope Cruz und der elfenhaft sanft auftretenden Milena Smit (mit passendem Pixie-Cut) zeichnen sich diese Sequenzen vor allem durch ihre beherrschte Inszenierung aus. Almodóvar mag dank quirligeren Werken wie «Mujeres al borde de un ataque de nervios» (1988), «Todo sobre mi madre» (1999) oder «Los amantes pasajeros» (2013) der Ruf anhaften, er werfe mit überkandideltem Kitsch-Drama nur so um sich; doch in «Madres paralelas» beweist er, dass er ein Meister der Tonfall-Kontrolle ist. Selbst nachdem der Plot den obligaten melodramatischen Weg eingeschlagen hat – einschliesslich Mutterschaftstests und der einen oder anderen Liebelei –, wird die emotionale Glaubwürdigkeit nicht der erzählerischen Überhöhung geopfert: Die Konflikte bleiben nachvollziehbar, die Figurenzeichnung empathisch.
«Neben der gewohnten visuellen Brillanz, insbesondere in Sachen Beleuchtung und Farbgebung, sowie dem herausragenden Zusammenspiel der stoisch-entschlossenen Penélope Cruz und der elfenhaft sanft auftretenden Milena Smit (mit passendem Pixie-Cut) zeichnen sich diese Sequenzen vor allem durch ihre beherrschte Inszenierung aus.»
Erst als dieses emotionale Fundament steht, kehrt Almodóvar explizit zur historischen und politischen Dimension der Erzählung zurück. In einem besonders eindringlichen Moment konfrontiert Janis die an der Ausgrabung kaum interessierte Ana mit der Realität, Teil der spanischen Gesellschaft zu sein: Zehntausende seien unter Franco spurlos verschwunden; kaum eine Familie sei nicht gezeichnet von dieser Geschichte. Wenn Ana wissen wolle, wer sie sei, solle sie ihre Eltern und Grosseltern fragen, was sie während der Diktatur gemacht haben.
Als die Exhumierung endlich grünes Licht erhält, treffen Janis und Arturo überlebende Angehörige, die ihnen Geschichten der Opfer erzählen – Geschichten, an die sie sich erinnern, «weil meine Mutter mir davon erzählt hat». In Almodóvars Interpretation des modernen Spaniens sind es Frauen im Allgemeinen und Mütter im Besonderen, welche die Erinnerungen an den antifaschistischen Widerstand, die nicht durch franquistische Propaganda und Null-Euro-Investitionen verzerrte Historie am Leben erhalten.
«Wie allerspätestens die atemberaubende Schlussszene unmissverständlich deutlich macht, ist der Film auch eine unbequeme Ermahnung eines 72-jährigen Spaniers, dass die Dämonen der Vergangenheit auch 46 Jahre nach Francos Tod noch nicht gebannt sind.»
Insofern ist «Madres paralelas» nicht nur ein weiterer virtuoser Eintrag in die beeindruckende Filmografie eines der wenigen männlichen Regisseure, die überzeugende Frauengeschichten erzählen können. Denn wie allerspätestens die atemberaubende Schlussszene unmissverständlich deutlich macht, ist der Film auch eine unbequeme Ermahnung eines 72-jährigen Spaniers, dass die Dämonen der Vergangenheit auch 46 Jahre nach Francos Tod noch nicht gebannt sind.
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Kinostart Deutschschweiz: 16.12.2021
Filmfakten: «Madres paralelas» / Regie: Pedro Almodóvar / Mit: Penélope Cruz, Milena Smit, Aitana Sánchez-Gijón, Israel Elejalde, Rossy de Palma, Julieta Serrano / Spanien / 120 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © PATHÉ FILMS AG 2021 / © El Deseo.
Zwei Frauen aus zwei Generationen setzen sich in «Madres paralelas» mit Mutterschaft und historischer Last auseinander. Was Pedro Almodóvar aus der Affiche herausholt, ist grossartig.
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