Mit «Small Axe» widmet der oscarprämierte Regisseur Steve McQueen («12 Years a Slave», «Widows») der karibischen Community von London eine Anthologie aus fünf in sich geschlossenen Filmen. Den Anfang macht das mitreissende Gerichtsdrama «Mangrove».
Der 22. Juni 1948 ist eines der bedeutsamsten Daten in der britischen Nachkriegsgeschichte. An diesem Tag legte die HMS Empire Windrush in der Nähe von London an – ein Ozeandampfer, unter dessen Passagieren sich 802 karibische Migrant*innen befanden. Es war der Beginn der sogenannten «Windrush Generation» – der Generation von vorab karibischen Immigrant*innen, die bis in die Siebzigerjahre nach England einwanderten, angespornt vom British Nationality Act, der sämtlichen Angehörigen des Empires britische Staatsbürgerschaft verlieh und ihnen das Recht gab, nach Grossbritannien einzureisen und sich dort niederzulassen. Diese westindische Minderheit, die heute gut ein Prozent der britischen Landesbevölkerung ausmacht, war wegweisend für das moderne Vereinigte Königreich – kulturell, politisch und nicht zuletzt gesellschaftlich.
«Diese westindische Minderheit, die heute gut ein Prozent der britischen Landesbevölkerung ausmacht, war wegweisend für das moderne Vereinigte Königreich – kulturell, politisch und nicht zuletzt gesellschaftlich.»
Als eine der ersten grossen Einwanderungswellen nach dem Zweiten Weltkrieg zog die Windrush-Generation den geballten rassistischen und xenophoben Furor der weissen Brit*innen auf sich. Zusammen mit der indischen und pakistanischen Gemeinschaft wurde sie zum Lieblingsfeindbild von Multikulturalismus- und Einwanderungsgegner*innen wie dem berüchtigten rechtsnationalen Politiker Enoch Powell. Diskriminierung und polizeiliche Willkür gegenüber schwarzen Menschen sind bis heute alltäglich. Erst vor wenigen Jahren wurde die britische Politik vom Windrush-Skandal erschüttert, bei dem unter anderem bekannt wurde, dass Menschen abgeschoben wurden, obwohl sie unter dem British Nationality Act eingebürgert worden waren.
Dieser Gemeinschaft und ihrer bewegten Geschichte setzt Regisseur und Drehbuchautor Steve McQueen in seiner «Small Axe»-Filmanthologie ein fünfteiliges Denkmal. Die Stossrichtung des Projekts legt bereits sein Titel nahe, der sich aus einem von Bob Marley popularisierten Sprichwort ableitet: «If you are the big tree, we are the small axe» – nur mit vereinten Kräften kann es gelingen, die alles durchsetzenden Strukturen zu durchbrechen, die so etwas wie den Windrush-Skandal überhaupt erst möglich gemacht haben.
«Mangrove», der erste Teil der Reihe, kommt denn auch gleich zur Sache und erzählt die wahre Geschichte der «Mangrove Nine», einer Gruppe schwarzer Aktivist*innen, denen 1970 ein äusserst fragwürdiger Prozess gemacht wurde. Das Drama kreist um das Londoner Restaurant Mangrove, das unter der Führung von Frank Crichlow (grandios: Shaun Parkes) zu einem wichtigen Treffpunkt für die ansässigen Immigrant*innen und ihre Kinder geworden ist – und damit ein äusserst beliebtes Ziel für spontane Polizeirazzien ist. Als die Black Panthers Altheia Jones-LeCointe (Letitia Wright), Darcus Howe (Malachi Kirby) und Barbara Beese (Rochenda Sandall) zusammen mit Frank einen Protestmarsch organisieren und dieser unter eifriger Mithilfe der Polizei eskaliert, werden das Quartett und fünf weitere Beteiligte kurzerhand vor den Richter gezerrt.
«Das mag wie die britische Entsprechung von Aaron Sorkins wortgewaltigem ‹The Trial of the Chicago 7› klingen, erweist sich aber rasch als ein in jeder Hinsicht überlegenes Werk.»
Das mag wie die britische Entsprechung von Aaron Sorkins wortgewaltigem «The Trial of the Chicago 7» (2020) klingen, erweist sich aber rasch als ein in jeder Hinsicht überlegenes Werk. Wo «Trial» Figuren, Politik und Kontext auf leicht verdauliche Karikaturen herunterbrach, zeigt «Mangrove» Mut zur Komplexität. So werden zum Beispiel die verschiedenen Positionen in einer Debatte – etwa jener zwischen Frank und den Panthers über die langfristige Wirksamkeit von politischem Ungehorsam – nicht plakativ von einzelnen Akteuren verkörpert, sondern auf eine Art und Weise ausdiskutiert, bei der klar ersichtlich wird, welch grosse Rolle der persönliche Hintergrund in solchen Fragen spielt: Wenn Frank sich schuldig bekennen will, dann ist das kein Mangel an Überzeugung, wie es ihm Altheia vorwirft, sondern die nachvollziehbare Resignation eines älteren Einwanderers, der sich schon zehn Jahre länger als sein Gegenüber die Zähne am britischen System ausbeisst und sich langsam nach dem ruhigen Leben sehnt, für das er einst Trinidad verliess.
Solche differenzierten Momente, die nicht in erhebendem solidarischem Konsens enden, sind auch das Resultat einer hervorragend ausbalancierten Handlung. McQueen und Co-Autor Alastair Siddons lassen erst eine gute Stunde verstreichen, bevor sie sich in den Gerichtssaal begeben und ihre Protagonist*innen mitreissende Reden gegen Rassismus schwingen lassen. Die erste Hälfte von «Mangrove» gilt der Etablierung der Charaktere und des Settings, und hier erkennt man eindeutig die anregend eigenwillige Handschrift des Regisseurs von «Hunger» (2008) und «12 Years a Slave» (2013): lange, statische Aufnahmen von Dialogen, poetisch aufgeladene Exposition via Voiceover; geduldige Kamerafahrten, die ein atmosphärisches Zeitbild vermitteln; Fotoeinblender, die an Spike Lee erinnern.
«‹Mangrove› ist sowohl ein mitreissendes, brandaktuelles Plädoyer gegen strukturellen Rassismus als auch eine stimmungsvolle Hommage McQueens an die Generation seiner Eltern.»
Überhaupt wirkt der Film streckenweise wie eine Annäherung McQueens an Lee. Wie in einem «Malcolm X» (1992) oder einem «Da 5 Bloods» (2020) trifft hier – gerade in der zweiten Hälfte – ein gewisser Hang zur Didaktik auf einen heiligen Zorn über die himmelschreiende Ungerechtigkeit weisser Hegemonie. Und es funktioniert: «Mangrove» ist sowohl ein mitreissendes, brandaktuelles Plädoyer gegen strukturellen Rassismus als auch eine stimmungsvolle Hommage McQueens an die Generation seiner Eltern.
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«Mangrove» lief am 15.11.2020 auf BBC One. Ein Streaming-Release ist auf Amazon Prime geplant.
Filmfakten: «Mangrove» / Regie: Steve McQueen / Mit: Shaun Parkes, Letitia Wright, Malachi Kirby, Rochenda Sandall, Nathaniel Martello-White, Darren Braithwaite, Duane Facey-Pearson / Grossbritannien, USA / 128 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © Des Willie/BBC/McQueen Limited
«Mangrove» ist ein fulminanter Einstieg in Steve McQueens «Small Axe»-Anthologie: Kultur und Aktivismus der karibischen Community von London werden spannend und atmosphärisch inszeniert.
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