Eine kleine Muschel erklärt uns das Leben. Dean Fleischer-Camps Stop-Motion-Mockumentary «Marcel the Shell with Shoes on» ist ein bezaubernder Film, der den Blick für das Kleine, das Alltägliche schärft und einen mit einem wohligen Gefühl zurücklässt.
Nachdem sie mit drei erfolgreichen Kurzfilmen das Internet im Sturm eroberten, bringen die beiden Filmemacher*innen Dean Fleischer-Camp und Jenny Slate «Marcel the Shell with Shoes on» auf die grosse Leinwand. Wie schon die gleichnamigen YouTube-Hits dreht sich auch der Kinofilm um den Filmemacher Dean (Dean Fleischer-Camp), der in einem Airbnb auf die kleine sprechende Muschel Marcel (Stimme: Jenny Slate) trifft. Marcel hat es sich im Haus zusammen mit seiner Grossmutter Connie (Stimme: Isabella Rossellini) gemütlich eingerichtet – einzig die Putzfrau, die einmal pro Woche vorbeischaut, bringt sein Leben durcheinander. Doch Marcel und Connie waren nicht immer allein – und mit Deans Hilfe versucht Marcel endlich, seine verschollene Familie wiederzufinden.
«Selbst im Grossen und Sensationellen gelingt es den Macher*innen die Freude am Alltäglichen und Kleinen nicht zu verlieren.»
Fleischer-Camp und Slate ergänzen das Konzept der 2010, 2011 und 2014 geposteten Kurzfilme – eine lose Aneinanderreihung von Beobachtungen und pseudophilosophischen Einschätzungen von Marcel – um einen Plot, der dem Ganzen eine gewisse Tiefe verleiht, ohne den Figuren die Luft abzuschnüren. Ist die Geschichte um den über Nacht zum Star gewordenen Marcel manchmal ein, zwei Hausnummern zu gross? Vermutlich. Doch das tut dem Unterhaltungswert von «Marcel the Shell with Shoes on» keinen Abbruch – denn selbst im Grossen und Sensationellen gelingt es den beiden Macher*innen, die hier zusammen mit Nick Paley und Elisabeth Holm auch das Drehbuch schrieben, die Freude am Alltäglichen und Kleinen nicht zu verlieren.
Bestes Beispiel dafür ist eine Szene, in der Marcel Kommentare auf YouTube zu seinem Erfolg durchliest. Ein an sich entscheidender Moment, zeigt er doch, dass die kleine Muschel beim Internetpublikum ankommt und über Nacht zum Star wird. Für die Macher*innen hingegen ist es einmal mehr eine Gelegenheit, um zu zeigen, dass Marcel auf ganz andere, scheinbar unwesentliche Dinge achtet. Und so folgt denn auch eine zynische Tirade darüber, warum zum Teufel jemand die Worte «Peace & Love» in eine Kommentarspalte schreibt – als ob es irgendeine Person gäbe, die diesem Ansinnen nicht zustimmen würde. «No, sorry, I’m a real war person.»
Dieses klare Gespür für die eigene Vision und ihre Stärken zeigt sich auch bei der Animation von «Marcel the Shell with Shoes on». Zu diesem Zweck wurde mit Kirsten Lepore eine etablierte Filmemacherin verpflichtet, die sich unlängst mit schrägen Kurzfilmen wie «Hi Stranger» (2016) oder der Marvel-Serie «I Am Groot» (2022– ) einen Namen machte. Lepore bleibt dem unaufgeregten, haptischen Look der Vorlage treu, holt dabei jedoch technisch das Maximum heraus – und nicht selten fragt man sich: Wie um Himmels Willen haben die zuständigen Animator*innen das gemacht?
«Marcel the Shell with Shoes on», der Überraschungsfilm des diesjährigen Fantoche, ist ein Film, der einen in seinen Bann zieht, und der zum Entdecken und Erkunden einlädt. Dean Fleischer-Camp gelingt mit seinem Erstling, was anderen Kurzfilm-zu-Langfilm-Adaptionen selten glückt: den Charme der Vorlage beizubehalten, gleichzeitig aber auch neue Elemente hinzuzufügen und so nicht zuletzt den veränderten filmischen Ansprüchen des Langfilmformats gerecht zu werden. Und allein schon deshalb ist «Marcel the Shell with Shoes on» der bezauberndste Animationsfilm der letzten Jahre.
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Kinostart Deutschschweiz: 3.11.2022
Filmfakten: «Marcel the Shell with Shoes on» / Regie: Dean Fleischer-Camp / Mit: Jenny Slate, Dean Fleischer Camp, Isabella Rossellini, Rosa Salazar, Thomas Mann, Lesley Stahl / USA / 90 Minuten
Bild- und Trailerquelle: A24 (Trailer), Seattle International Film Festival (Titelbild), A.Frame / Universal Pictures International Switzerland GmbH
Das Regiedebüt von Dean Fleischer-Camp ist ein liebevolles und liebenswertes Werk, das sich durch geschickte Alltagsbeobachtung und eindrückliche Animation in unsere Herzen... muschelt.
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