Abfälle bis in die hintersten Winkel der Erde – von den Schweizer Berggipfeln bis zu den malerischen weissen Stränden der Malediven, von den griechischen Küsten über Nepal bis hin zur Wüste Nevadas: manchmal sichtbar, meistens unsichtbar – vergraben, verbrannt, im Meer versenkt. Der österreichische Dokumentarfilmer Nikolaus Geyrhalter verfolgt in «Matter Our of Place» den Müll quer über den Planeten und protokolliert den undankbaren Versuch des Menschen, dem Abfall Herr zu werden.
Wohin mit den menschengemachten Abfällen, die uns permanent umgeben? Sammeln, trennen, zerkleinern, verbrennen, vergraben: Diese Sisyphusarbeit löst das sich auftürmende globale Müllproblem nur scheinbar – auch wenn die Definition «Matter out of Place» ursprünglich von «Burning Man», einem Festival in der Wüste von Nevada, stammt, wo alles, was nach dem Festival übrig bleibt und vorher nicht da war (also mitgebracht wurde) wieder «entfernt» (also mitgenommen) werden muss. Ein Gegenstand – genauer: Müll –, der sich in einem für ihn unnatürlichen Umfeld befindet, wird sinngemäss «matter out of place» genannt; und solche findet man überall, auch an Orten, wo man sie nicht vermutet.
«Es geht darum, was die Menschen hinterlassen, und was übrig bleibt, was eigentlich, wo auch immer es dann übrig bleibt, dort nicht hingehören würde.»
«Es geht darum, was die Menschen hinterlassen, und was übrig bleibt, was eigentlich, wo auch immer es dann übrig bleibt, dort nicht hingehören würde», so Nikolaus Geyrhalter in einem Interview im Rahmen des Filmfestivals von Locarno, wo seine Dokumentation ihre Weltpremiere feierte. Wobei nach dieser Premiere sicher niemanden zum Feieren zumute war, denn wieder schafft es der «König der der unliebsamen Dokumentarfilme» («Homo Sapiens», «Abendland»), die niemand wirklich sehen will, weil sie uns aufrütteln und ein schlechtes Gewissen machen, uns in den Bann zu ziehen und uns an unsere Plastikbecher und -Flaschen, die zerknüllten Taschentücher in der (Fast-Fashion-)Manteltasche und das Curry im Einweggeschirr vor dem Film zu erinnern.
Geyrhalters Reise in «Matter Out of Place» beginnt im beschaulichen Solothurn, wo die Bagger riesige Löcher in eine saftige Wiese graben. Was nach dem Beginn einer Überbauung aussieht, entpuppt sich als Aushebung einer Mülldeponie aus den 1970er Jahren, wo Müll schlicht und einfach vergraben wurde. Das war damals der Stand der Technik, so wie man bis ins späte Mittelalter, den Abfall aus dem Fenster warf und darauf wartete, dass er verrottete. Doch der Fortschritt selber erzeugt auch jede Menge Müll, der bestehen bleibt, auch wenn man ihn vergräbt. Und auch hier befinden sich noch heute Abfälle, die wiederverwertet werden könnten. Denn Müll vergeht nie. Selbst nach der Verbrennung bleiben Asche und Schlacke übrig.
Aber Geyrhalter will weder kommentieren noch Lösungen aufzeigen. Der Zufall führte ihn an verschiedenste Orte – auch coronabedingt, da nicht all die Länder, über deren Abfallsituationen schon in diversen Dokumentarfilmen berichtet wurde («Waste Land», «Welcome to Sodom», «Addicted to Plastic»), bereist werden konnten. In langen Einstellungen beobachten wir die Arbeiter in einer Mülldeponie in Nepal, die bei Dauerregen versuchen, den Abfall mit der Rikscha zur Deponie zu bringen, und schliesslich am Schlamm scheitern. Fast schon absurd mutet auch der Transport eines Müllwagens an, der mit der Gondel in die Schweizer Berge gehievt wird, um die Skiorte sauber zu halten; ebenso die frühmorgendliche Müllentsorgung an touristischen Stränden, bevor die Urlauber*innen aufwachen.
Sollten die Malediven einst vom Meer verschluckt werden, dann wird einzig die Insel übrig bleiben, die am höchsten ist, weil sie aus einem riesigen Müllberg besteht, so Geyrhalter. Ist er deswegen pessimistisch? Nein, meint er, denn Pessimismus ist keine Lösung. Müll gibt es überall, und es gibt Menschen, die an Verbesserungen arbeiten, auch wenn die Handlungsmöglichkeiten begrenzt sind. Sehr gut veranschaulicht das die Logistik bei einer modernen Wiener Kehrichtverbrennungsanlage, wo sortiert und zerkleinert und am Ende vielleicht etwas Energie zum Heizen gewonnen wird.
2005 realisierte Geyrhalter die genauso sehenswerte Dokumentation «Unser täglich Brot» und brachte das Problem folgendermassen auf den Punkt: In Wien, wo damals gut zwei Millionen Menschen lebten, wird täglich so viel Brot weggeworfen, wie in der 290’000-Einwohner-Stadt Graz täglich gegessen wird. Wird die korrekte Entsorgung einer Plastikflasche also zum Luxusproblem? Wie aufwendig ist ein müllfreies Leben? Reicht der Enthusiasmus vieler freiwilligen Helfer*innen, die Küsten und Meeresgründe säubern, um das Müllaufkommen zu bewältigen?
«‹Matter Out of Place› geht unter die Haut: Kommentare sind überflüssig, die Bilder sprechen für sich.»
Es sind Fragen, die der Film nicht explizit beantwortet. Doch «Matter Out of Place» geht unter die Haut: Kommentare sind überflüssig, die Bilder sprechen für sich. Der in Locarno vom WWF neu eingeführte «Pardo Verde»-Preis ging im vergangenen Jahr zu Recht an Geyrhalters beklemmende Vision.
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Kinostart Deutschschweiz: 23.3.2023
Filmfakten: «Matter Out of Place» / Regie: Nikolaus Geyrhalter / Österreich, Deutschland / 105 Minuten
Bild-und Trailerquelle: Frenetic Films AG
In Nikolaus Geyrhalters Dokumentarfilm «Matter Out of Place» wird der Müll und der Versuch, ihm Herr zu werden, über den ganzen Planeten verfolgt. Hoffnungslos, aber sehenswert.
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