Im Rahmen des 19. Zurich Film Festival stellte «Carol»-Regisseur Todd Haynes seinen neuen Film «May December» vor. Da trifft eine Hollywood-Schauspielerin auf die Frau, die sie in ihrem nächsten Film verkörpern soll – eine Frau, die 20 Jahre zuvor für ihre Affäre mit einem Minderjährigen inhaftiert wurde. Das Melodrama stellt unter Beweis, was man von Haynes schon lange weiss: Wenn es darum geht, die Komplexität menschlicher Beziehungen auf die Grossleinwand zu bringen, macht ihm kaum jemand etwas vor.
Die Schauspielerin Elizabeth Barry (Natalie Portman) steht kurz vor den Dreharbeiten für ihren nächsten Film. Sie reist nach Savannah, Georgia, um sich mit Gracie (Julianne Moore), die sie verkörpern soll, auf die Rolle vorzubereiten. Vor 20 Jahren sorgte die damals Mittdreissigerin für Empörung, als sie für ihre Beziehung mit dem 13-jährigen Joe (Charles Melton) zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Inzwischen sind die beiden noch immer ein Paar und haben drei Kinder zusammen. Die Schauspielerin trifft im Garten des Ehepaars also auf eine scheinbar normale Familie.
Unter der Prämisse, dass der Film über ihr Leben die «wahre» Geschichte dieser in Gracies Augen missverstandenen Liebe zeigen soll, nimmt sie Elizabeth mit in ihren Alltag. Die Fassade bröckelt jedoch schnell, und je mehr Elizabeth über Gracie und Joe lernt, desto unangenehmer wird es – insbesondere für das Publikum.
Todd Haynes bedient sich hierbei diverser Stilmittel, die man sich von seinen bisherigen Filmen nicht zwingend gewohnt ist. Mit überzeichnet wirkenden Zooms, einer dramatisch repetitiven Filmmusik und durchaus humorvollen Szenen verleiht er «May December» beinahe den Charakter einer Soap, die sich selber auf die Schippe zu nehmen weiss. Seine Ästhetik hingegen, mit ihren stimmigen Farben und körnigen Aufnahmen, wie wir sie aus «Far from Heaven» (2002) kennen, sowie der gekonnte Einsatz von allerlei Spiegelungen wie in «Carol» (2015) bleiben auch in seinem zehnten Werk unverkennbar.
Auf den ersten Blick mag «May December» also einer schwarzen Komödie gleichkommen; auf den zweiten und dritten Blick offenbaren sich aber die vielen Schichten, mit denen der Film subtil Stellung nimmt. Immer wieder holt er das Publikum auf den Boden der Tatsachen zurück und stellt die Machtverhältnisse klar.
«Auf den zweiten und dritten Blick offenbaren sich die vielen Schichten, mit denen der Film subtil Stellung nimmt. Immer wieder holt er das Publikum auf den Boden der Tatsachen zurück und stellt die Machtverhältnisse klar.»
Der Ausdruck «May December» bezieht sich auf eine Beziehung mit grossem Altersunterschied – und auch die Geschichte selbst orientiert sich lose an wahren Begebenheiten: In den späten Neunzigerjahren sorgte das Verhältnis zwischen der 34-jährigen Lehrerin Mary Kay LeTourneau und dem damals zwölfjährigen Vili Fualaau für Schlagzeilen. Auch sie heirateten, nachdem Mary Kay ihre Haftstrafe verbüsst hatte.
Es ist – mit anderen Worten – ein Thema, bei dem der Schuss in falschen Händen auch schnell nach hinten losgehen könnte. Doch es wäre kein Film von Todd Haynes, wenn er diese Gratwanderung nicht trittsicher meistern würde, was sich besonders in der Art und Weise zeigt, wie die Protagonist*innen agieren.
Einerseits ist da Gracie, eine scheinbar naive Frau, die sich halt nun einmal in den durch Zufall viel jüngeren Joe verliebt hatte. Sie scheint in Joe einen Retter zu sehen, in dessen Armen sie sich von ihren überspitzten Gefühlsausbrüchen erholen kann. Doch die angebliche Naivität entpuppt sich schnell als kalte Manipulation. «Ich bewundere dich für deinen Mut, deine Arme so zu zeigen», sagt sie zu ihrer 17-jährigen Tochter, als diese ein Kleid für ihre Abschlussfeier anprobiert, und lässt damit tief blicken. Auf der anderen Seite haben wir Joe, der mit seinen 36 Jahren irgendwie immer noch ein Kind ist, sich kaum auszudrücken vermag und an den damaligen Siebtklässler erinnert, der Gracie damals zum ersten Mal begegnete.
«Auf der anderen Seite haben wir Joe, der mit seinen 36 Jahren irgendwie immer noch ein Kind ist, sich kaum auszudrücken vermag und an den damaligen Siebtklässler erinnert, der Gracie damals zum ersten Mal begegnete.»
Und dann ist da aber auch noch Elizabeth, die von allen Figuren vielleicht die komplexeste ist. Mit ihrem vordergründig tiefen Verständnis für alle Beteiligten beobachtet sie Gracies Gestik und Mimik bis ins Detail, spiegelt sie im wahrsten Sinne des Wortes. «Du und ich, wir sind beide gleich», sagt Gracie zu Elizabeth bei ihrem ersten Treffen über ihre Körpergrösse – und weiss vielleicht da bereits, dass es viel mehr als nur das ist.
Haynes‘ Zusammenarbeit mit Hauptdarstellerin Julianne Moore ist in den fünf Filmen, welche die beiden bereits miteinander gedreht haben, zur Garantie für grossartige schauspielerische Leistungen geworden. Das ist auch in «May December» nicht anders. In dieser Konstellation ist es allerdings Natalie Portman, die mit ihrem Auftritt besonders zu überzeugen vermag. Spätestens seit ihrer Rolle der besessenen Künstlerin in «Black Swan» (2010) weiss man, zu welch intensiven Leistungen sie fähig ist. In «May December» schafft sie es nicht nur, ihre Rolle in all ihren Facetten darzustellen; sie fängt auch die kleinen Eigenheiten, die Julianne Moore in ihrer Rolle ausmachen auf, und gibt diese als Grace spielende Elizabeth bis ins Detail wieder.
«In ‹May December› schafft sie es nicht nur, ihre Rolle in all ihren Facetten darzustellen; sie fängt auch die kleinen Eigenheiten, die Julianne Moore in ihrer Rolle ausmachen auf, und gibt diese als Grace spielende Elizabeth bis ins Detail wieder.»
«May December» ist ein Melodrama, das jegliche Grenzen verschwimmen lässt: zwischen Moral und Manipulation, zwischen dem Selbst und dem Gegenüber. Todd Haynes gelingt es also auch in seinem neuesten Werk, die komplexe Thematik so weit wie möglich herunterzubrechen und auf eindrückliche Art und Weise zu vermitteln, ohne dabei dem Publikum den Interpretationsspielraum zu sehr zu verschliessen. Die ungewohnt humorvollen Aspekte werden überwiegend gelungen eingesetzt, wobei damit nicht ganz so stringent umgegangen wird, wie es vielleicht sinnvoll gewesen wäre. Besonders der mittlere Teil schlägt deutlich ernstere Töne an, was im Hinblick auf das eher gehetzte Ende mit einem leicht überraschenden Stimmungswechsel nicht ganz so sorgfältig wirkt. Dennoch reiht sich «May December» weit vorne in die Liste von Haynes‘ besten Filmen ein.
Mehr zum Zurich Film Festival 2023
Über «May December» wird auch in Folge 70 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Kinostart Deutschschweiz: 22.2.2024
Filmfakten: «May December» / Regie: Todd Haynes / Mit: Natalie Portman, Julianne Moore, Charles Melton, Elizabeth Yu, Cory Michael Smith / USA / 113 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © May December Productions 2022 LLC / © 2024 Ascot Elite Entertainment. All Rights Reserved
«May December», Todd Haynes' zehnter Spielfilm, schlägt ungewohnt komödiantische Töne an. Und dennoch hat das Melodrama ebenso tiefe Abgründe wie seine Protagonist*innen.
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