Am 26. Dezember 2024 kommt der australische Animationsfilm «Memoir of a Snail» von Adam Elliot in die Deutschschweizer Kinos. Olivier Samter hat sich am diesjährigen Zurich Film Festival mit ihm unterhalten.
Für den animierten Kurzfilm «Harvey Krumpet» (2003) gewann Adam Elliot 2004 einen Oscar, 2009 eroberte er mit dem schwarzhumorig-anrührenden Knetanimationsfilm «Mary and Max» die Herzen. Jetzt, 15 Jahre später, kehrt er mit «Memoir of a Snail», der bittersüssen Geschichte über die Schnecken sammelnde Aussenseiterin Grace Pudel (gesprochen von Sarah Snook) zurück.
Der Stop-Motion-Film wurde am renommierten Animationsfestival in Annecy mit dem Hauptpreis ausgezeichnet und gilt bereits jetzt als heisser Oscar-Anwärter. Wir haben uns anlässlich des Zurich Film Festival im Oktober mit Adam Elliot getroffen und mit dem Filmemacher über die Herausforderungen von Animationsfilmen für Erwachsene, sein Verhältnis zu Religion und James Dean unterhalten.
Olivier Samter: «Memoir of a Snail» ist dein zweiter Langfilm nach dem sehr erfolgreichen «Mary and Max». Man könnte meinen, dass einem nach so einem erfolgreichen Debüt alle Türen offenstehen und auch die finanziellen Möglichkeiten grösser werden – was aber nicht der Fall war. Das Budget für diesen Film war sogar kleiner.
Adam Elliot: Ja, knapp die Hälfte.
Wie schafft man es, mit so viel weniger Geld einen Film zu machen, der sich so viel grösser anfühlt als der letzte?
In Australien hat sich viel verändert – wie auch im Rest der Welt. Es gibt weniger Arthouseproduktionen, und auch die Lebens- und Materialkosten sind gestiegen. Es ist echt schwer, einen Film wie diesen zu machen. Wir mussten grosse Opfer bringen. Grace zum Beispiel kann nicht einmal richtig laufen: Sie bewegt sich wie ein Muppet, man sieht ihre Füsse nie. Diese kleine technische Anpassung sparte uns viel Geld. Wir haben auch viel Voiceover und Off-Erzählung eingesetzt, denn Lippenbewegungen zu animieren, dauert lange und ist teuer. Wir haben überall geschaut, wie wir das Budget runterbringen können. Die grösste Herausforderung war es, den Film zu finanzieren. Im Vergleich zur Finanzierung war die Umsetzung des Films ein Klacks.
«Nach ‹Mary and Max› war ich ziemlich verzweifelt und kämpfte mit einer depressiven Phase.»
Inwiefern hat dich deine Erfahrung bei «Mary and Max» auf dieses Projekt vorbereitet?
Nach «Mary and Max» war ich ziemlich verzweifelt und kämpfte mit einer depressiven Phase. Mein Produzent und ich haben uns getrennt – eine berufliche Trennung quasi. Es dauerte sehr lange, bis ich meine Energie und meinen Enthusiasmus wiederfand. Ich wollte einen Film machen, der noch düsterer war, aber ein fröhlicheres Ende hat. Dafür das Geld aufzutreiben, war echt schwierig. Was ich damals gelernt habe, ist, wie schwierig es ist, Animationsfilme für Erwachsene zu verkaufen – insbesondere australische Knetanimationsfilme für Erwachsene.
Noch immer?
Ja, noch immer. Es wird einfacher, es gibt einen grösseren Markt. Und die sozialen Medien helfen auch. Aber ich habe gelernt, keine Angst davor zu haben, mich mit schwierigen Themen zu befassen und mir keine Gedanken darüber zu machen, was andere Leute denken. Einfach den Film zu machen, den ich machen möchte. Wenn du jünger bist, machst du dir noch viele Gedanken darüber, was andere Leute sich denken. Ich habe gelernt, diese Sorge loszulassen.
«Ich hasse es, zu animieren. Ich bin echt nicht gut darin. Ich war noch nie gut darin, und irgendwann habe ich aufgegeben.»
Apropos loslassen: Nicht selten passiert es, dass Animator*innen, sobald sie Regie führen, keine Zeit mehr haben, effektiv zu animieren. War das für dich auch der Fall?
Ja, aber ich war froh, dass ich nicht animieren musste. Ich hasse es, zu animieren. Ich bin echt nicht gut darin. Ich war noch nie gut darin, und irgendwann habe ich aufgegeben. Für mich war es eine Sache weniger, um die ich mir Sorgen machen musste, nicht zuletzt weil meine Animator*innen grossartig sind. Sie lieben es, und ich bin noch so froh, das ihnen zu überlassen.
Im Film sprichst du einen der Rüpel, die Grace piesacken. Mit all den Problemen und dem Unglück, das du deinen Figuren an den Kopf wirfst, fühlst du dich da manchmal selber wie ein Rüpel?
Ja, ich bin echt grausam zu Grace. Ich weiss, ich bin grausam zu meinen Figuren. Ich tue ihnen echt viel Leid an. Aber ich glaube, das ist notwendig. Ich glaube, die Figuren müssen leiden, und Grace muss echt viel leiden. Aber ich belohne sie am Schluss für all ihr Leiden und ihren Schmerz. In meinen Filmen gibt es viel Tod, viel Trauma, Verlust, Verwirrung, Wut, einfach alles. Aber das ist das Leben. Wir gehen alle durch diese Emotionen. Es gibt Höhen und Tiefen, und ich versuche einfach, das echte Leben abzubilden.
Wie schaffst du es, all die verschiedenen Emotionen in deinen Filmen auszubalancieren?
Ich finde es schwierig, das Gleichgewicht zwischen Licht und Schatten zu halten. Ich sammle Zitate, und eines meiner Lieblingszitate ist: «Ohne die Dunkelheit hat das Licht keinen Zweck.» Ich bin überzeugt, dass es das Dunkle braucht, damit das Licht mehr Gewicht hat. Aber das zu schreiben, ist echt herausfordernd. Manchmal geht es schief, wenn auf eine echt tragische Szene eine witzige Sequenz folgt. Ich vertraue dann auf meinen Instinkt und darauf, dass das, was kommen wird, ausgleicht, was eben passiert ist.
«Manchmal ist Humor auch ein Ventil für Anspannung, wo man aus Erleichterung lacht – ein bisschen wie bei einem Dampfkochtopf, der explodiert.»
Manchmal ist Humor auch ein Ventil für Anspannung, wo man aus Erleichterung lacht – ein bisschen wie bei einem Dampfkochtopf, der explodiert. Ich verwende alle Arten von Humor: Sarkasmus und Ironie, sehr einfachen Humor und sehr anspruchsvollen Humor. Ich versuche einfach, so viel wie möglich zusammenzumischen. Das Ende des Films soll zufriedenstellend sein. Nicht unbedingt ein Happy End, aber ein erfüllendes und erhebendes Ende – was ich hier zumindest versucht habe.
Du mischst auch viel aus deiner eigenen Biografie in den Film: Graces Wunsch, eine Animatorin zu sein, oder die Geschichte ihres Vaters, der – wie dein eigener – ein Akrobat ist. Wie entscheidest du, welche und wie viele persönliche Elemente du in den Film einbauen möchtest?
Manchmal mache ich mir Gedanken, dass zu viel aus meinem eigenen Leben in meinen Filmen drin ist, dass sie zu autobiografisch sind. Es gibt dieses Zitat, das ich mag: «Don’t let the truth get in the way of a good story». Immer mal wieder muss ich mich daran erinnern, dass diese Filme fiktional sind, keine Dokumentationen. Es ist okay, sich selber im Film zu haben – das Publikum weiss das ja nicht, und es kennt mich nicht. Ich mache mir da vermutlich eher Gedanken um meine Familienmitglieder, die ich auch in den Film einbaue. Sie wissen, dass immer irgendwer von ihnen im Film landet, und das macht sie nervös.
«Ich will herausfordern. Ich möchte, dass meine Filme zum Denken anregen – aber nicht, dass sie jemanden verärgern.»
Aber ich habe grossen Respekt für meine Figuren. Ich will niemanden vor den Kopf stossen. Ich will herausfordern. Ich möchte, dass meine Filme zum Denken anregen – aber nicht, dass sie jemanden verärgern. Gut, für Kinder sind meine Filme jetzt wirklich nicht gedacht. Da mache ich mir immer Sorgen, wenn ich Eltern sehe, die mit ihren Kindern ins Kino kommen. Aber das ist dann das Problem der Eltern.
Machen dir Eltern manchmal Vorwürfe?
Ja, manchmal melden sie sich bei mir und sind wütend. «Ihre Filme sind nicht für Kinder!» Ich sage ihnen dann: «Das weiss ich, warum bringen Sie ihre Kinder überhaupt ins Kino?»
In «Memoir of a Snail» spielen Bücher eine grosse Rolle, und du bewertest sie auch. Du hast die guten Bücher – jene, die Grace und ihr Bruder Gilbert als Kinder lesen –, die schlechten Bücher – die schnulzigen Schundromane und Lebensratgeber –, und dann gibt es noch das böse Buch – die Bibel, mit der die Pflegefamilie von Gilbert all ihre Taten rechtfertigt. Weshalb hast du dich dazu entschieden, dass Bücher nicht nur so eine wichtige Rolle spielen, sondern auch unterschiedlich bewertet werden?
Ich liebe es, zu lesen. Lesen ist wahrscheinlich meine grösste Leidenschaft – und erst dann das Zeichnen. Ich lebe mein Leben nach drei Dingen: lesen, schreiben und zeichnen, immer und immer wieder. All die Bücher im Film, die Grace und Gilbert lesen, sind Bücher, die ich auch gelesen habe. Es sind offensichtlich alles Klassiker. Ich glaube, viele davon habe ich als Jugendlicher gelesen und sie haben mich viel gelehrt. Ich wollte, dass Grace und Gilberts Vater Percy ihnen auf den Weg mitgibt, wie wichtig es ist, zu lesen – und wie das Lesen eine Flucht sein kann, wenn man an einem schlimmen Punkt ist. Egal, wo du bist: Durch das Lesen kannst du ausbrechen. Grace beginnt dann aber irgendwann, kitschige Schundromane zu lesen und… was war das dritte Buch nochmal?
Die Bibel.
Ah ja, die Bibel. Ich wuchs mit Religion auf. Ich musste jedes Wochenende zur Sonntagsschule und mein Taschengeld an die Kirche abgeben. Meine Highschool war auch eine sehr religiöse Schule. Wir sangen Loblieder und hatten Religionsfächer und Religionsunterricht. Sobald ich die Schule verlassen hatte, wurde ich Atheist. Ich habe mich der Religion entsagt.
«Ich ärgere mich enorm, nicht über bestimmte Religionen, sondern über die organisierte Religion.»
Ich ärgere mich enorm, nicht über bestimmte Religionen, sondern über die organisierte Religion. Die Art von Religion, welche die Gemeinde ausnimmt und bei der es nicht um christliche Werte geht oder um das Christentum. So viele religiöse Institutionen sind heuchlerisch und machen nicht die Dinge, die sie tun sollten. Sie nehmen die Leute aus. Ich bin spirituell, ich bin ein Humanist. Ich will das Beste für uns alle und ich will, dass die Leute nett und grossherzig sind, einfach Religion finde ich… (seufzt laut)
Die Figur, die in deinem Film von Religion am meisten betroffen ist, ist Gilbert. Er ist dieser junge Mann, der irgendwie deplaziert wirkt und der ausbrechen will, indem er alles anzündet. Wenn ich dir so zuhöre frage ich mich, wie viel von Gilbert in dir steckt.
Es ist viel von meiner eigenen Wut und meinem eigenen Ärger über die Welt in Gilbert drin, und natürlich auch seine Homosexualität. Es ist fast so, als ob er sich selber für vieles hasst, aber letzten Endes findet er seinen Frieden und seine Ruhe. Ich sehe viel von meinem jüngeren Ich in Gilbert. Ich glaube, alle sehen ein bisschen was von sich selber in ihm, diese Wut auf das System, den Status quo und das Establishment. Ich sehe Gilbert als eine Mischung aus James Dean aus «Rebel without a Cause» (1955), Charlie Brown und Holden Caulfield aus «The Catcher in the Rye» (1951) – ganz besonders Holden Caulfield.
Zwischen «Mary and Max» und «Memoir of a Snail» sind 15 Jahre vergangen. Möchtest du dir für ein nächstes Projekt wieder so viel Zeit nehmen, oder arbeitest du bereits an etwas Neuem?
Nein, ich habe grosse Lust, mit der Arbeit an meinem nächsten Film loszulegen – anders als nach «Mary and Max». Damals hatte ich für eine Weile erst einmal keine Lust, einen neuen Film zu machen. Jetzt habe einen grossartigen Produzenten und ein tolles Team und ich will einfach nur loslegen. Die Idee dazu habe ich schon in meinem Kopf. Ich muss es nur noch niederschreiben und hoffen, dass es diesmal fünf und nicht 15 Jahre werden.
«Mit Vorstädten habe ich jetzt abgeschlossen. Jetzt ist es an der Zeit, meinen eigenen ‹Thelma & Louise› zu machen und auszubrechen.»
Kannst du schon etwas darüber erzählen?
Ja, es wird ein Roadmovie. Ich will, dass eine Figur eine lange Reise antritt – nicht nur körperlich sondern auch mental. Das Format des Roadmovies bietet wunderbare filmische Möglichkeiten mit all den spannenden Dingen, die unterwegs passieren können. Ich habe jetzt auch genug von Filmen über Figuren, die in ihren vorstädtischen Schlafzimmern eingesperrt sind. Mit Vorstädten habe ich jetzt abgeschlossen. Jetzt ist es an der Zeit, meinen eigenen «Thelma & Louise» (1991) zu machen und auszubrechen.
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Titelbild: © Andreas Rentz (Getty) for ZFF
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