Der thailändische Slow-Cinema-Meisterregisseur Apichatpong Weerasethakul befasst sich in «Memoria» mit den grossen Fragen der menschlichen Existenz. Das Resultat ist ein zutiefst bewegender Film – wenn man dafür empfänglich ist.
Die Erde hat ein Gedächtnis. Das ist eine Tatsache, die sich Tag für Tag wieder von neuem bewahrheitet: Auf einer Baustelle wird eine mittelalterliche Gürtelschnalle ausgegraben, eine archäologische Grabung fördert einen altrömischen Mosaikboden zutage, Paläontolog*innen stossen auf fossile Knochen, die Hunderttausende, wenn nicht sogar Abermillionen von Jahren alt sind.
Doch was, wenn dieses irdische Erinnerungsvermögen über solche (be)greifbaren Überbleibsel hinausgeht? Legen jüngste Erkenntnisse in der Quanten- und Astrophysik – sowie der oft zitierte Fakt, dass sämtliche Materie aus Urknall- und Sternenstaub besteht – nicht nahe, dass sich Ereignisse und Eindrücke womöglich in die molekulare Struktur des Universums einbrennen könnten?
«Legen jüngste Erkenntnisse in der Quanten- und Astrophysik nicht nahe, dass sich Ereignisse und Eindrücke womöglich in die molekulare Struktur des Universums einbrennen könnten?»
Diese Frage scheint sich jedenfalls der thailändische Regisseur Apichatpong Weerasethakul gestellt zu haben, als er mit der Arbeit an seinem neuesten Film, dem Fantasydrama «Memoria», begann. Hier ist es Jessica (Tilda Swinton), eine in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá lebende Botanikerin, die mit der unvorstellbaren Weite der Geschichte und der unergründlichen Tiefe des Kosmos in Berührung kommt: Nachdem sie eines Nachts von einem dumpfen Knall aufgeweckt wird, den sie in der Folge in scheinbar willkürlichen Momenten immer wieder hört, macht sie sich auf die Suche nach dessen Ursache – eine Suche, die sie erst in die Welt der Musikwissenschaft und Paläoanthropologie führt, bevor sie in einem Dorf im kolumbianischen Dschungel eine schicksalhafte Begegnung mit dem mysteriösen Hernán (Elkin Díaz) hat.
Es mag Apichatpongs erster Film sein, der ausserhalb von Thailand spielt; doch thematisch betritt der Grossmeister der zeitgenössischen Slow-Cinema-Bewegung – einer Kunstfilm-Unterart, die auf lange, stille Einstellungen und erzählerischen Minimalismus setzt – damit kaum Neuland: Viele seiner wichtigsten Werke, darunter die mythologisch überhöhte Queer-Romanze «Tropical Malady» (2004) und der Palme-d’or-Gewinner «Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives» (2010), handeln von den unsichtbaren Bändern, die Menschen nicht nur untereinander, sondern auch mit der Natur, in der sie sich bewegen, verbinden.
«So wie man sich als Zuschauer*in auf die massive Entschleunigung, die in Apichatpongs Werken praktiziert wird, einlassen muss, so erfordert auch die Weltanschauung von ‹Memoria› eine gewisse mentale Anpassung.»
So wie man sich als Zuschauer*in auf die massive Entschleunigung, die in Apichatpongs Werken praktiziert wird, einlassen muss, so erfordert auch die Weltanschauung von «Memoria» eine gewisse mentale Anpassung. Dies ist ein Film, der schon in den ersten zehn Minuten – mithilfe einer spontanen Autoalarm-Kakophonie – signalisiert, dass er sich für die fast nicht wahrnehmbaren Schwingungen, die aus dem Innern der Erde herausströmen, interessiert. Im weiteren Verlauf wird die Britin Jessica, die wiederholt versuchen muss, das Unbeschreibliche in spanische Worte zu fassen, auf 6’000 Jahre alte Skelette treffen, auf das Geschrei von Brüllaffen, auf menschliche Antennen, die nicht träumen können, und auf einen Stein, der die Spuren eines jahrhundertealten Konflikts in sich zu tragen scheint.
All das spielt sich vor einer omnipräsenten, brillant konzipierten Klangkulisse ab, mit der das Sounddesign-Team um Akritchalerm Kalayanamitr und Javier Umpierrez die sphärischen Ideen des Films optimal unterstreicht. Das Stimmengewirr auf einem Universitätscampus, das alltägliche Lärmdickicht der Grossstadt Bogotá, das Rauschen des Windes in den Bäumen, das unablässige Plätschern des Baches, an dem Hernáns Haus liegt, der unheimliche Knall, um den sich alles dreht: Es sind die Geräusche eines lebenden Planeten, in dessen organisches Bewusstsein «Memoria» abzutauchen versucht.
Wem das alles zu abstrakt und zu esoterisch erscheint, wird sich mit dem ambitionierten audiovisuellen Gedankenexperiment, das Apichatpong hier vornimmt, wohl kaum anfreunden können. Doch wer sich dazu bereit erklärt, diese meditative filmische Seelenwanderung anzutreten, wird mit einem Werk von bewegender Schönheit und anregender Nachdenklichkeit belohnt.
«Wer sich dazu bereit erklärt, diese meditative filmische Seelenwanderung anzutreten, wird mit einem Werk von bewegender Schönheit und anregender Nachdenklichkeit belohnt.»
Denn was hier emotional auf dem Spiel steht, ist letztlich nicht weniger als die Frage nach der Position des Menschen innerhalb des gewaltigen universellen Kontexts, mit dem sich Jessica konfrontiert sieht: Wie schliesst man Frieden mit der Tatsache, nicht viel mehr als ein empfindungsfähiger Klumpen Materie zu sein – eine winzige Ausbeulung im allumfassenden Erdorganismus, die früher oder später in ihre molekularen Einzelteile zerfallen wird? Es gilt, so Hernán, zu erkennen, was für ein Glück es ist, überhaupt erst Teil dieses Prozesses zu sein: «Wie hat es sich angefühlt, zu sterben?», fragt ihn Jessica einmal. «Es war nicht so schlimm», antwortet er. «Ich habe einfach aufgehört.»
–––
Kinostart Deutschschweiz: 2.6.2022
Filmfakten: «Memoria» / Regie: Apichatpong Weerasethakul / Mit: Tilda Swinton, Elkin Díaz, Juan Pablo Urrego, Jeanne Balibar, Daniel Giménez Cacho / Thailand, Kolumbien, Grossbritannien, Frankreich, Deutschland, Mexiko, China, Tawian, USA, Katar, Schweiz / 136 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © Cinémathèque Suisse
Die Erde lebt – und Regisseur Apichatpong Weerasethakul versucht in «Memoria», filmisch auszuloten, was das überhaupt bedeutet. Bedächtig, philosophisch, grandios.
No Comments