In «Menus-Plaisirs – Les Troisgros» entführt Frederick Wiseman, der inzwischen 94-jährige Meister der ausladenden Dokumentationen über verschiedene menschliche Institutionen, sein Publikum hinter die Kulissen der Familie Troisgros, die im Herzen Frankreichs eine Kette von Haute-Cuisine-Restaurants unterhält.
Filme, die länger als zweieinhalb Stunden dauern, werden gerne als grundsätzlich undurchdringliche, arrogant publikumsfeindliche Egotrips von überambitionierten Regisseur*innen abgetan. Doch es gibt eine Therapie gegen diese negative, oftmals unbegründete negative Voreingenommenheit: Sie heisst Frederick Wiseman.
Der 94-jährige Wiseman ist ein New Yorker Regisseur, der in den Sechzigerjahren den beobachtenden, ohne didaktische Erzählstimme auskommenden Fly-on-the-Wall-Dokumentarfilm mitbegründete und diesen Stil seither stetig weiterentwickelt, verfeinert und vertieft hat. Zu Buche stehen Dutzende von epischen filmischen Porträts – viele davon Standardwerke des amerikanischen Doku-Kinos – über verschiedene Institutionen, Orte und Auswüchse der modernen menschlichen Gesellschaft: «Welfare» (1975) etwa befasst sich 167 Minuten lang mit dem Alltag der Menschen, deren Leben vom US-Sozialstaat geprägt sind; «Ex Libris – The New York Public Library» (1997) ist ein 200-minütiger Streifzug durch die vielen Zweigstellen und Wirkungsstätten der titelgebenden Bibliothek, «City Hall» (2020) eine 272-minütige Auseinandersetzung mit der Stadtregierung von Boston.
«Wer sich von Wiseman die Welt zeigen lässt, wird unweigerlich davon überrascht werden, wie schnell drei, vier Stunden verfliegen können.»
Was alle diese Filme ausmacht, ist Wisemans beeindruckendes Talent, sein Publikum für die alltäglichen Details, die versteckten Mechanismen der Moderne, die seine Kamera einfängt, zu sensibilisieren und zu faszinieren – und mit seinem unaufdringlich suggestiven Schnitt diese Phänomene gleichzeitig kritisch zu hinterfragen. Wer sich von Wiseman die Welt zeigen lässt, wird unweigerlich davon überrascht werden, wie schnell drei, vier Stunden verfliegen können.
Genau das zeichnet auch seinen neuesten Wurf aus. «Menus-Plaisirs – Les Troisgros» dauert 240 Minuten und handelt von der französischen Haute-Cuisine-Familie Troisgros, die im französischen Département Loire ein kleines Restaurant-Imperium führt, das vor lauter Michelin-Sternen nur so strotzt. Wer angesichts dieser Prämisse nun erwartet, dass Wiseman die vier Stunden Laufzeit ausschliesslich in der Küche verbringt – und einem damit quasi den Non-Fiction-Cousin von «Boiling Point» (2021) und «The Menu» (2022) vorsetzt –, hat die Rechnung aber ohne sein Interesse an institutionellen Verkettungen gemacht.
«Menus-Plaisirs» beginnt auf dem Markt des Städtchens Roanne, wo sich eine Troisgros-Delegation über das frische Gemüse und die noch an der Baumrinde haftenden Pilze aus der Umgebung hermacht. Dann wohnt James Bishops Kamera einer ausgedehnten Strategiesitzung über eine neue Speisekarte bei, bei der über Sinn und Unsinn von Sojasauce und Passionsfrucht philosophiert wird; anderswo werden Kellner*innen auf die neuesten Kreationen aus der Küche eingestimmt. Im Laufe des Films folgen Stippvisiten bei einheimischen Viehzüchter*innen und Käsehersteller*innen, welche die Troisgros nicht nur vom superioren Geschmack ihrer Ware zu überzeugen versuchen, sondern auch sehr bedacht darauf sind, die ethische, technologische und klimatologische Überlegenheit des eigenen Betriebs zu betonen.
Keine Frage, Wisemans Film handelt auch vom Kochen: Nicht umsonst spielen viele der denkwürdigsten Momente des Films in der auffallend ruhigen Troisgros-Grossraumküche – seien es die geradezu hypnotischen Sequenzen, in denen ziemlich eklig aussehendes Rohmaterial zu kleinen Kunstwerken auf Tellern verarbeitet wird, oder die anrührend menschlichen Szenen wie jene, in der Familienoberhaupt Michel Troisgros einem Lehrling mithilfe der Escoffier- und Larousse-Enzyklopädien geduldig erklärt, wie man Gehirne richtig zubereitet.
«Die Gerichte auf den Tellern mögen noch so kunstfertig daherkommen, hier wird vor allem eines gemacht: Umsatz, und das nicht zu knapp.»
Doch letztlich ist «Menus-Plaisirs» vor allem ein faszinierend ambivalenter, subtil selbstreflexiver Film über die Vermarktung von Kunst. Obwohl Wiseman hier, wohl auch als Konzession an die Troisgros, von einigen seiner markantesten wiederkehrenden Motive absieht – etwa den Klassenunterschieden innerhalb des Personals oder der sonst obligaten Szene, in der die Protagonist*innen über das Budget debattieren, an das sich ihre Institution zu halten hat –, geistert das profitorientierte Denken durch die ganzen vier Stunden. Von den Lebensmittellieferant*innen mit ihren poetischen Verkaufsmaschen bis hin zu Michel Troisgros selbst, der seiner wohlhabenden Restaurant-Kundschaft am Tisch perfekt einstudiert wirkende Geschichten über japanische Halsketten und 86-jährige Mietverträge erzählt – die Gerichte auf den Tellern mögen noch so kunstfertig daherkommen, hier wird vor allem eines gemacht: Umsatz, und das nicht zu knapp.
Man könnte Wisemans Film nun als zynischen Troisgros-Imagefilm bezeichnen, doch das wäre zu kurz gegriffen. Vielmehr setzt sich «Menus-Plairis» mit der Frage auseinander, ob Kunst – gerade jene von der kulinarischen Gestalt – überhaupt je ausserhalb dieser perfiden monetären Struktur existieren kann. Eine weniger auf eine einzige Unternehmerfamilie ausgerichtete Dokumentation hätte dieses Dilemma wohl entschiedener beantworten können – doch mit dieser anregenden Ambivalenz liefert Wiseman auch ein gutes Argument dafür, dem Film noch ein zweites Mal vier Stunden zu widmen.
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Kinostart Deutschschweiz: 15.2.2024
Filmfakten: «Menus-Plaisirs – Les Troisgros» / Regie: Frederick Wiseman / Frankreich, USA / 240 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Xenix Filmdistribution GmbH
«Menus-Plaisirs – Les Troisgros», Frederick Wisemans vierstündige Exkursion in die Welt der Haute Cuisine, ist durchgehend fesselnd – und stellt unbequeme Fragen über die Vermarktung von Kunst.
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