Aus dem riesigen Angebot an japanischen Serien auf Netflix sticht «Midnight Diner» als besonderer Geheimtipp hervor, dem das Kunststück gelingt, einfache Alltagsgeschichten berührend und mit viel Liebe und Empathie für die Figuren zu erzählen.
In einer Seitengasse mitten in der pulsierenden Millionenstadt Tokio steht ein winziges Restaurant, das erst um Mitternacht öffnet und dessen Tresen Platz für kaum mehr als zehn Personen bietet. Der Inhaber (Kaoru Kobayashi), den alle nur «Meister» nennen, kocht alles für seine Gäste, wenn sie die Zutaten selbst mitbringen.
«Das ‹Midnight Diner› bietet den vergessenen Menschen ein Refugium, in dem sie ihrem Alltag entfliehen können und in dem sie im mystisch angehauchten ‹Meister› mit der markanten Narbe über dem Auge einen geduldigen Zuhörer finden.»
Das eigentümliche und doch sympathische Diner ist Dreh- und Angelpunkt der Anthologieserie «Midnight Diner» (2009–2019). Um den engen Tresen versammeln sich alltägliche Personen, rastlose oder einsame Gestalten, Love-Hotel-Zimmermädchen, Glücksspieler, überforderte Studenten – Menschen, die in der Grossstadt übersehen werden. Das «Midnight Diner» bietet den vergessenen Menschen ein Refugium, in dem sie ihrem Alltag entfliehen können und in dem sie im mystisch angehauchten «Meister» mit der markanten Narbe über dem Auge einen geduldigen Zuhörer finden.
In jeder Folge wird eine neue Story erzählt. Die Stimmung schwankt dabei zwischen heiter, absurd, melancholisch und herzergreifend traurig, und ganz selten nehmen die Geschichten gar magisch-realistische Züge an. Die Serie schafft es mit viel Feingefühl, diese Nuancen gekonnt auszuloten und die Geschichten nie plump und die Protagonist*innen nie lächerlich wirken zu lassen.
In der ersten Folge etwa betritt ein brutal wirkender Yakuza das Diner. In seinem schwarzen Anzug und der noch schwärzeren Sonnenbrille, die er auch in der schummrig beleuchteten Gaststätte nie abnimmt, und einer steinernen Mimik, die Clint Eastwood wie Jim Carrey wirken lässt, sieht er aus wie das Abziehbild eines japanischen Gangsters. Gleichzeitig geniesst ein homosexueller Gast sein Omelett im Diner, der mit seinem dicken Make-Up und den auffälligen Ohrringen so wirkt, als wäre er direkt aus einer Drag-Show gefallen. Diese Ausgangslage hätte locker in eine Travestie voller unpassender Plattitüden ausarten können. Stattdessen serviert uns die Serie eine anrührende Story über Akzeptanz und Zugehörigkeit, erzählt mit sanftem Humor und feinfühliger Melancholie.
«Die Serie schafft es mit viel Feingefühl, diese Nuancen gekonnt auszuloten und die Geschichten nie plump und die Protagonist*innen nie lächerlich wirken zu lassen.»
Auch wenn das Schauspiel für westliche Sehgewohnheiten bisweilen etwas seltsam ist und einige Charaktere wirken, als spielten sie in einem Anime mit, findet jede Folge das Besondere im Alltäglichen. Das gilt auch für die Speisen, die der Meister serviert. Diese stehen meist für einen emotionalen Punkt im Leben der Gäste – vergleichbar mit dem Restaurantkritiker aus «Ratatouille» (2007), der sich dank einer einfachen Mahlzeit an seine Kindheit erinnert.
«Midnight Diner» ist eine entschleunigende Serie, die, ihrem meditativen Rhythmus entsprechend, am besten häppchenweise konsumiert wird. Durch das theaterhafte Schauspiel wirkt sie zunächst befremdlich, aber nach einigen Folgen versprüht sie eine Magie, die in den aktuell turbulenten Zeiten beruhigend wirkt – wie ein gutes Essen unter Freunden.
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Jetzt auf Netflix
Serienfakten: «Midnight Diner» (Staffeln 1–3) und «Midnight Diner: Tokyo Stories» (Staffeln 4–5) / Regie: Joji Matsuoka / Mit: Kaoru Kobayashi, Kaoru Kobayashi, Mansaku Fuwa, Toshiki Ayata, Shohei Uno, Risa Sudo, Asako Kobayashi, Nahoko Yoshimito / Japan / 50 Episoden à 22–26 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Netflix
Die Geschichten von «Midnight Diner» sind dank der einfühlsamen Erzählweise herzerwärmend, weise und etwas schräg. Ein kleines Serien-Juwel.
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