Mike Flanagan, Regisseur von Horrorfilmen wie «Doctor Sleep» und «Hush», wurde in den letzten Jahren vor allem für seine beiden Netflix-Serien «The Haunting of Hill House» und «The Haunting of Bly Manor» bekannt. Gekonnt durchmischt er in diesen Werken Horror-Elemente und Drama und erzählt Geschichten, in denen Erinnerungen monströse Formen annehmen. So auch in seiner neuesten Miniserie, «Midnight Mass», die sich bedächtig, melancholisch und minimal gruselig mit dem katholischen Glauben auseinandersetzt.
Riley Flynn (Zach Gilford) sitzt auf dem Gehsteig, inmitten von zerbrochenem Glas und dem blauroten Blitzlichtgewitter von Polizeiautos, und starrt mit grossen Augen auf eine junge Frau, die reglos auf dem Boden liegt. Scheinbar automatisch beginnt er, das Vaterunser zu beten – erstarrt in der Erkenntnis, dass er betrunken diesen Unfall verursacht und der jungen Frau das Leben genommen hat. Eindringlich und unentrinnbar wie ein Albtraum schlägt diese erste Szene die Tonalität von Mike Flanagans neuester Netflix-Horror-Serie «Midnight Mass» an.
«‹Midnight Mass› ist, mehr als alles andere, eine sirrende Meditation über den Sinn der menschlichen Existenz, die (religiöse) Gemeinschaft und Fragen des Glaubens und der (Selbst-)Vergebung.»
Der grausame Anblick der jungen Frau wird zu einem Leitbild, das Riley auch nach vier Jahren Gefängnisstrafe noch immer jede Nacht heimsucht – einer der wenigen ‘jump scares’ der ansonsten sehr gemächlich gruseligen Serie. Gleichzeitig offenbart sich, dass alle folgenden Heimsuchungen nicht primär dazu da sind, dem Publikum Schauer über den Rücken zu jagen, sondern vielmehr um das Kernanliegen der Serie zu transportieren: «Midnight Mass» ist, mehr als alles andere, eine sirrende Meditation über den Sinn der menschlichen Existenz, die (religiöse) Gemeinschaft und Fragen des Glaubens und der (Selbst-)Vergebung.
Nach seiner Gefängnisstrafe kehrt Riley auf die winzige Crockett Island mit ihren sage und schreibe 127 Einwohner*innen zurück – die Insel seiner Kindheit, auf der seine Eltern bis heute noch leben. Mit ihm erreicht ein charismatischer junger Fremder die Insel: Father Paul Hill (ein ausgezeichneter Hamish Linklater), der den Posten des kürzlich verreisten alten Priesters übernehmen soll. Ganz in Horror-Manier bedeutet die Ankunft eines mysteriösen Fremden – der dazu in offensichtlicher Anlehnung an «Nosferatu» (1922) eine riesige, ominös klopfende Kiste anschleppt – den Beginn von düsteren Ereignissen. Der Tod aller streunenden Insel-Katzen ist da nur der Anfang.
Wer Mike Flanagans «The Haunting of Hill House» (2018) und «The Haunting of Bly Manor» (2020) kennt, kann sich vorstellen, was einen in «Midnight Mass» erwartet: Der Horror ist dünn gesät und nicht der primäre Grund, weshalb die Serie so bestechend ist. Flanagans Talent liegt darin, Figuren lebendig werden zu lassen, ihre Krisen und Beziehungen empathisch aufzubauen und ihre Fragen und Unsicherheiten mit philosophischer Tiefe zu versehen. In «Midnight Mass» geschieht dies vor allem anhand langer, tiefgründiger Monologe über – wortwörtlich – Gott und die Welt, die den Grat zwischen subtiler Poesie und ausufernden Zusammenfassungen nicht immer gleich elegant wandeln. In manchen Fällen hätte Flanagan das Schnittmesser wohl strenger zücken können; den facettenreichen Einblicken in die Innenwelten seiner Figuren tut dies dennoch keinen Abbruch.
«Wer Mike Flanagans ‹The Haunting of Hill House› und ‹The Haunting of Bly Manor› kennt, kann sich vorstellen, was einen in ‹Midnight Mass› erwartet: Der Horror ist dünn gesät und nicht der primäre Grund, weshalb die Serie so bestechend ist. Flanagans Talent liegt darin, Figuren lebendig werden zu lassen, ihre Krisen und Beziehungen empathisch aufzubauen und ihre Fragen und Unsicherheiten mit philosophischer Tiefe zu versehen.»
In nur sieben Episoden entwirft «Midnight Mass» das komplexe Diorama der winzigen Inselgemeinschaft und ihrer Heimsuchungen und wirft ganz unterschiedliche Charaktere in den Dampfkochtopf des Horror-Szenarios. Da ist etwa Bev Keane (Samantha Sloyan), die rechte Hand des Priesters, die grundsätzlich heiliger – und passiv-aggressiver – als alle anderen Mitglieder der Kirche ist. Da ist Erin Greene (Kate Siegel), Rileys Jugendfreundin, die einst die Insel mit rebellischen Plänen verliess und nun schwanger zurückgekehrt ist. Da ist Sheriff Hassan (Rahul Kohli), der muslimische Sheriff, der mit seinem Sohn Ali (Rahul Abburi) auf die Insel zog, um den Vorurteilen nach 9/11 zu entfliehen und diese Entscheidung ziemlich bald hinterfragen muss.
Zu viel soll über die Heimsuchungen und Monster dieser Serie nicht verraten werden – ausser, dass Flanagan sie äusserst effektiv einsetzt, um sich nuanciert mit dem katholischen Glauben auseinanderzusetzen. Die Kritik am Kirchensystem, das die fanatischen Züge gewisser Individuen prächtig gedeihen und sich als Werkzeug für Massenverblendung einsetzen lässt, wird sorgfältig kontrastiert mit der Tatsache, dass der Gottesdienst für viele ein essenzieller Ort der Gemeinschaft und der Begegnung ist, wo Einsamkeit und emotionale Wunden geheilt werden. Flanagan versteht es meisterlich, die Zentralität von Ritualen zu inszenieren – in ihrer Halt gebenden Wichtigkeit wie auch in ihrer potenziell bedrohlichen Auflösung von Individualität und Rationalität. Dass eine Institution, die an die furchterregende Schönheit von Engeln glaubt, das Auftauchen eines Monsters nicht sinnig einordnen kann, ist nur eine erste logische Konsequenz.
«‹Midnight Mass› ist keine Horror-Serie im klassischen Sinne: Es ist ein Drama, das sich Horror-Elemente bedient, um das Innere, mit all seinen Abgründen und dunklen Winkeln, nach aussen zu kehren.»
«Midnight Mass» ist keine Horror-Serie im klassischen Sinne: Es ist ein Drama, das sich Horror-Elemente bedient, um das Innere, mit all seinen Abgründen und dunklen Winkeln, nach aussen zu kehren. Die Serie stellt die grossen Fragen des Lebens, die im Anblick von Monstern nur an Dringlichkeit gewinnen. Was geschieht mit uns nach dem Tod? Wie können wir anderen, aber auch vor allem uns selbst, vergeben? Wie findet ein Individuum seinen Platz in einer Gemeinschaft? Und welche Rolle spielt der Glaube in alldem? In Erinnerung bleiben werden nicht die blutrünstigen Schatten dieser Serie, sondern ihre Antworten – unvollkommen, hoffnungsvoll und erschreckend zugleich.
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Jetzt auf Netflix Schweiz
Serienfakten: «Midnight Mass» / Creator: Mike Flanagan / Mit: Zach Gilford, Hamish Linklater, Kate Siegel, Samantha Sloyan, Rahul Kohli, Kristin Lehman / USA / 7 Epispden à 60–71 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Netflix / Cr. EIKE SCHROTER/NETFLIX © 2021
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