Ein Horrorfilm, der in gleissendem Tageslicht spielt? Nach dem intensiven «Hereditary» bringt Ari Aster nur ein Jahr später seinen neuen Nervenkitzler «Midsommar» in unsere Kinos, in welchem der Jungregisseur einmal mehr mit komplexem Erzählstil und visueller Schauderhaftigkeit verstört.
Dani (Florence Pugh) fährt mit ihrem Freund Christian (Jack Reynor) in den Sommerferien nach Schweden an ein Festival der besonderen Art, obwohl die Beziehung der beiden kriselt und die mitreisenden Freunde Christians (das Wilhelm-Dreiergespann Will Poulter, William Jacksonund Vilhelm Blomgren) von der weiblichen Begleitung nicht begeistert sind. Das besagte Festival ist das nur alle 90 Jahre stattfindende Mittsommernachtsfest einer sektenähnlichen Gruppierung namens Hårga, der Pelle (Vilhelm Blomgren), welcher seine amerikanischen Freunde einlädt, selbst angehörig ist. Die amerikanische Truppe, die sich grundsätzlich nur aus Studiengründen für die archaische Kommune interessiert, wird innerhalb kurzer Zeit immer tiefer in ihre erst schrullig-fragwürdigen, später gruselig-verhängnisvollen Bräuche eingesogen. Als nach und nach immer mehr der Freunde spurlos verschwinden, muss sie erkennen, dass sie nicht nur Zuschauer des Spektaktels sind, sondern die Schlüsselfiguren in den blutigen Festivitäten der Hårga spielen.
Der Ursprung des Horrors
Die saftgrünen Wiesen des hohen europäischen Nordens, die reine weisse Kleidung, floralen Haarkränze und fröhlichen Reigentänze der Kommune-Mitglieder sowie die niemals untergehende Sommersonne, die das idyllische Setting in gleissendes Licht taucht, entsprechen nicht gerade dem altbekannten Setting eines Horrorfilms. Der Horror, der aus dem Unbekannten und Unerklärlichem entspringt, wird meist in dunklen Tiefen, tiefschwarzen Nächten und vor nebelverhangener Kulisse erzeugt. Aus dieser Unsichtbarkeit der Dunkelheit entspringt der Grusel, in Form eines Monsters, Aliens, oder einer übel gesinnten Menschengestalt. Bei «Midsommar» ist dies nur vermeintlich anders: Denn auch wenn scheinbar alles in hellichtem Tageslicht sichtbar ist, bleibt der Ursprung des Bösen verborgen. Dieser liegt im verschränkten Weltbild und der daraus resultierenden pervertierten Ethik der schwedischen Gruppierung, in Danis engerem Beziehungsnetz und in deren eigenem Kopf. Doch beginnen wir von vorne.
Horror im Fremden
In «Midsommar» treffen zwei verschiedene Kulturen aufeinander. Alleine die Sprachbarriere zwischen diesen – die Ankündigungen auf Schwedisch sind für die Zuschauer untertitelt, für die englischsprachigen Figuren bleiben sie Kauderwelsch, dessen Bedeutung sie sich selbst zusammenreimen müssen – sorgt für Entfremdung. Das weltverliebte Verhalten, das den Figuren einen surrealen, feenhaften Touch verleiht, erweitert diesen Effekt, auch wenn die amerikanischen Figuren zu Beginn von dieser unschuldig wirkenden, fremden Welt verzaubert sind. Dass am Mittsommernachtsfest nicht nur Kuchen gebacken und Fangen gespielt wird, sondern die traditionellen Bräuche oftmals blutig enden, bringt den verstörend-brutalen Drive in das Setting. Dieser pervertierte Kult erweitert die Diskrepanz zwischen der dargestellten fröhlich weissen Welt und der tiefschwarzen Ideologie, die ihr innewohnt, macht die Handlungen der schwedischen Kommune unvorhersehbar und sorgt dafür, dass die scheinbare Freiheit des offenen Feldes, auf dem die Festivitäten stattfinden, nicht gegen die brutale und beklemmende Mentalität der dort ansässigen rigiden Kommune ankommt.
Horror des Nicht-Sprechens
Während die Mitglieder der Kommune sich scheinbar wortlos verstehen, steht in Danis Freundeskreis die Kommunikation längst auf dem Abstellgleis. Niemand ausser Pelle will sie wirklich dabeihaben. Vielmehr drängen die Freunde Christians ihn, sich doch endlich von Dani zu trennen. Der traut sich aber nicht, ihr seine wahren Gefühle mitzuteilen und gaukelt ihr stattdessen Vertrauen und Zugehörigkeit vor, was sich in seinen Handlungen aber nicht bestätigt. In «Midsommar» geht es, so hat es bereits Aster ausgedrückt, um eine fehlerhafte Beziehung und die Auswirkungen von fehlendem Vertrauen. Oder wie Schauspielerin Florence Pugh es selbst beschreibt: «Midsommar» ist die «worst break up-story ever».
«Midsommar» ist die «worst break up-story ever.»
A24 vertickt dreimonatige Beziehungstherapien.
Horror im eigenen Kopf
Dani ist komplett auf sich alleine gestellt und muss auf ihre Intuition vertrauen. Doch diese liegt auf Eis. Denn erst einige Monate zuvor hat sie ihre gesamte Familie verloren, eine Backstory, die den Zuschauern in der Eröffnungssequenz auf die folgende visuelle Brutalität vorbereitet und eines der denkwürdigsten Bilder des Filmes ist. Zudem werden die amerikanischen Touristen von der Ankunft an in regelmässigen Abständen mit mysteriösen halluzinogenen Substanzen vernebelt. Dies ist visuell aufregend und erregt gleich doppeltes Misstrauen in die Bilder: Was passiert wirklich, was entsteht nur in Danis Kopf? Von diesem Horror, der aus der eigenen halluzinierenden Psyche hervorgeht, macht auch Gaspar Noé in «Climax» gebrauch, in dem er einer gesamte Tanzequipe mit LSD-Sangria die Wahrnehmung vernebelt.
Und was ist nun mit dem Licht? Schlussendlich ist das friedliche Setting im Hellen ein gekonnter stilistischer und ästhetischer Eingriff, der die amerikanische Reisetruppe mitsamt der Kinozuschauer an der Nase herumführen will und den Ursprung des Horrors als Gegenprogramm unterstreicht, ihn aber nicht selbst hervorbringt.
Das bewährte Erfolgsrezept von «Hereditary» oder: «Is it scary?»
Ari Aster versteht unter Horror nicht den gewohnten Schock von Gruselfilmen, oder die Suspense, die Alfred Hitchcock etablierte. In «Midsommar» ist wie in «Hereditary» von Beginn an etwas off. Asters Horror gründet bei «Midsommar» in der uralten Mystik der abgeschotteten Community, in «Hereditary» in einer ebenso seit Ewigkeiten bestehenden schwarzen Magie.
Asters Horror gründet bei «Midsommar» in der uralten Mystik der abgeschotteten Community, in «Hereditary» in einer ebenso seit Ewigkeiten bestehenden schwarzen Magie.
Weitere Ähnlichkeiten: Die Protagonistinnen beider Filme verlieren unter tragischen Umständen nahestehende Personen und bieten dadurch ein noch verletzlicheres Angriffsziel für den unerbittlichen Horror, der sie vom Subjekt zum handlungsunfähigen Objekt degeneriert, ihnen jeglichen Willen und Stärke raubt. Langsam wird in die Welt des Filmes eingeführt, in dessen Verlauf immer wieder kleines cues eingestreut werden, die erst unscheinbar und unwichtig wirken, am Ende des Filmes aber als Puzzleteile das grosse Mysterium zusammensetzen. Ähnlich geht Jordan Peele bei «Get Out» und «Us» vor: Beim zeitgenössischen Horror liegt the devil in the details und entwickelt sich subtil, dafür umso beklemmender zu einem Opus, dessen Rechnung am Schluss perfekt aufgeht. Aster setzt mehr auf schleiming-unangenehme Cringeworthiness als auf den plötzlichen Schock, auf eine verstörende Visualität, die sich im Gedächtnis einbrennt. Man bekommt Dinge zu sehen, die nur die wenigsten von uns in ihren schlimmsten Albträumen zu sehen bekommen werden. Das Gehirn fühlt sich nach «Midsommar» ein wenig an wie nach einem zehnstündigen Flug, den das Oberstübchen durch Dehydration und Filterkaffee schrumpelig wie eine Rosine gemacht hat. Denn gegen das, was erlebt und gesehen wird, kommt niemand ohne übernatürliche Kräfte an.
Aster setzt mehr auf schleiming-unangenehme Cringeworthiness als auf den plötzlichen Schock, auf eine verstörende Visualität, die sich im Gedächtnis einbrennt
Die Systematik unterdrückt das Individuum
Ein Minuspunkt kann der Charakterzeichnung angerechnet werden. Während die Figuren der schwedischen Gruppierung bis auf einzelne Schlüsselfiguren als anonymer Schwarm gezeichnet sind, gehen die männlichen Figuren der amerikanischen Touristen in verschiedensten Stereotypen auf. So ist Mark (Will Poulter) der impulsive und oberflächliche Macho, Josh (William Jackson Harper) der interessierte, zugleich aber auch langweilige Student und Pelle (Vilhelm Blomgren) der vermeintlich gutherzige Travelguide. Was Dani an Christian (Jack Reynor), ihrem Freund, findet, wird auch nicht ganz klar, denn der ist schlichtweg indifferent und auch leicht dümmlich.
Durch diese Charakterlosigkeit wirken die Dialoge manchmal etwas belanglos oder offensichtlich, Florence Pugh vermag mit ihrer Interpretation der intuitiven, aber passiven Dani den Film als stetige Sympathiefigur tragen. Die Figuren sind bei «Midsommar» allerdings sowieso Beigemüse und grundsätzlich beliebig austauschbar. Denn genau durch diese Austauschbarkeit werden sie zu den perfekten Spielsteinen der perversen Hårga-Festivitäten.
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Kinostart Deutschschweiz: 3.10.2019
Filmfakten: «Midsommar» / Regie: Ari Aster / Mit: Florence Pugh, Jack Reynor, Will Poulter, William Jackson, Vilhelm Blomgren, Isabelle Grill, Ellora Torchia, Henrik Norlén / USA / 138 Minuten
Bild und Trailerquelle: Ascot Elite.
In «Midsommar» ist nichts, wie es scheint. Nur in einem sind wir uns sicher: Ari Asters Nachfolge von «Hereditary» steht seinem Erstlingswerk in nichts nach.
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