Der Juni ist regnerisch – gut, steht Netflix mit einer Miniserie bereit, die uns ein wenig Sommer ins heimische Wohnzimmer bringt. Regisseur Per-Olav Sørensen vereint in «Midsummer Night» ein fröhliches Fest mit warmherzigen Figuren und verborgenen Geheimnissen. Wer sich hinter bunten Farben dunkle Abgründe erhofft, wird aber enttäuscht – zumindest ein bisschen. Alle anderen dürfen sich auf eine liebevoll inszenierte Serie freuen, die sich mit den alltäglichen Ängsten und Problemen von Menschen auseinandersetzt – und das überraschend unzynisch.
Mittsommernacht steht kurz vor der Tür. Zu diesem frohen Anlass haben die Eheleute Carina (Pernilla August) und Johannes (Dennis Storhøi) ihre Familie und Angehörigen zum gemeinsamen Feiern eingeladen. Weil das Fest gemäss norwegischer Manier in Carinas Augen ein wenig trostlos ist, möchte sie die Zusammenkunft mit schwedischen Traditionen aufpeppen. Denn die Familie soll möglichst gut gelaunt von ihrem und Johannes’ Geheimnis erfahren.
Doch plötzlich wandelt sich das fröhliche Familienfest zur zynischen Zerreissprobe – so zumindest die Erwartungshaltung bei dieser Art von Plot. Denn wem «Festen» von Thomas Vinterberg ein Begriff ist, weiss, dass der dänische Filmemacher dieses Sujet bereits 1998 mit seinem wegweisenden Dogma-95-Film aufgriff. Andere Regisseurinnen und Regisseure – wie etwa Stina Werenfels mit «Nachbeben» (2006), Karyn Kusama mit «The Invitation» (2015) oder Bora Dağtekin mit «Das perfekte Geheimnis» (2019) – folgten dem Beispiel und würzten ihrerseits Feiern und Dinner-Partys mit dunklen Geheimnissen, Intrigen und menschlichen Abgründen. Die grundlegende Idee, dass solche Zusammenkünfte als Gefäss für schockierende Enthüllungen fungieren sollen, ist also nicht neu. Entsprechend gespannt startet man in Per-Olav Sørensens Miniserie und fragt sich zu Recht: Wird auch diese scheinbar intakte Familie von den bald enthüllten Abgründen und Geheimnissen der Figuren zerrüttet?
Und prompt lässt einen die Anfangssequenz im Glauben, dass sich «Midsummer Night» diesem düsteren Erzählschema fügt. Doch Sørensen führt uns hier mit verwackelter Handkamera-Optik und der temporeichen musikalischen Untermalung von Vivaldis «Presto» aus dem Sommerzyklus seiner «Vier Jahreszeiten»-Komposition auf eine falsche Fährte, denn der grosse Knall bleibt schliesslich aus. Stattdessen besticht die norwegische Miniserie durch warmherzige und ehrliche – wenn auch klischierte – Figuren, die einander so akzeptieren, wie sie sind, und sich ihre Eigenarten und Fehltritte gegenseitig verzeihen.
«Die norwegische Miniserie besticht durch warmherzige und ehrliche – wenn auch klischierte – Figuren, die einander so akzeptieren, wie sie sind, und sich ihre Eigenarten und Fehltritte gegenseitig verzeihen.»
Da wäre beispielsweise Carinas Bruder, der das Klischee eines Mannes in der Midlife-Crisis widerspiegelt: Håkan (Christopher Wollter) ist ein charmanter Lebemann, der mit Boot und seiner 30 Jahre jüngeren Freundin Sara (Fanny Klefelt) anreist. Die Anwesenden beobachten die Ankunft der beiden zwar mit prüfenden Blicken, empfängt das Paar aber dennoch herzlich. Die Liebesbeziehung von Håkan und Sara stellt niemand infrage – stattdessen wird sie bedingungslos akzeptiert. Nur Johannes, der seinerseits das Klischee eines alten und griesgrämigen Zeitgenossen mit festgefahrenen Prinzipien bedient, reagiert skeptisch: Er zeigt im Gespräch mit Carina wenig Verständnis für Håkans Beziehung – steht dabei aber auch unter dem Einfluss der bevorstehenden Geheimnisenthüllung.
Ebenso klischiert wirkt in «Midsummer Night» Jannike (Linn Skåber), die gerne in Fettnäpfchen tritt. Sie ist die Mutter des Verlobten von Carinas und Johannes‘ ältester Tochter und nimmt kein Blatt vor den Mund: Diskretion scheint für sie ein Fremdwort zu sein, weswegen ihr manchmal das nötige Feingefühl fehlt, Situationen richtig einzuschätzen. So plaudert sie munter über den Schwangerschaftstest, den sie soeben im Bad gefunden hat. Doch auch hier weicht die Serie den gängigen Konfliktsituationen gekonnt aus: Jannikes gelegentlich unsensible Art führt nicht zu Streit; ihre Mitmenschen verzeihen ihr den Tritt ins Fettnäpfchen, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
Diese versöhnlichen und warmherzigen Charakterzüge zeugen von einer grossen Portion Menschlichkeit. Dies ist in Anbetracht all der düsteren Filme mit ähnlichem Plot überraschend, aber vor allem erfrischend und einfach schön anzuschauen. Und gerade weil diese bisweilen klischierten Figuren mit ihren persönlichen Geheimnissen und Problemen dem allseits bekannten Alltag entsprungen zu sein scheinen, fällt es einem leicht, sich selbst in ihnen in irgendeiner Art und Weise wiederzuerkennen.
«Zwar werden auch in ‹Midsummer Night› fortlaufend Geheimnisse gelüftet, und Verborgenes, das in den Figuren lauert, wird enthüllt, aber das geschieht wider Erwarten ganz ohne Zynismus und sozialkritische Bissigkeit.»
Wer sich also dramatische Wendungen und schockierende Offenbarungen à la «Festen» verspricht, wird vermutlich enttäuscht. Zwar werden auch in «Midsummer Night» fortlaufend Geheimnisse gelüftet, und Verborgenes, das in den Figuren lauert, wird enthüllt, aber das geschieht wider Erwarten ganz ohne Zynismus und sozialkritische Bissigkeit. Liebe, Akzeptanz, Vergebung und Versöhnung stehen hier an der Tagesordnung, weswegen man nach den fünf Folgen nicht in desolater Hoffnungslosigkeit im Sofa versinkt, sondern sich mit sommerlich warmen Gefühlen aus dem Sessel schwingt.
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Jetzt auf Netflix Schweiz
Serienfakten: «Midsummer Night» («Midtsommernatt») / Creator: Per-Olav Sørensen / Mit: Pernilla August, Dennis Storhøi, Christopher Wollter, Kadir Talabani, Yngvild Støen Grotmol, Fanny Klefelt, Linn Skåber / Norwegen / 5 Episoden à 27–33 Minuten
Bild- und Trailerquelle:
Wen Klischees nicht stören und wer sie stattdessen als Chance sieht, sich mit Figuren zu identifizieren, ist bei «Midsummer Night» richtig. Die Serie bietet gute Unterhaltung und warme Sommergefühle.
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