Mit «Roter Himmel» setzte Christian Petzold vor zwei Jahren ein Ausrufezeichen. Das Nachfolgewerk «Miroirs No. 3» ist eine bescheidenere Angelegenheit – aber diese hat ihren ganz eigenen Reiz.
Das dritte Stück aus Maurice Ravels musikalischem Zyklus «Miroirs» (1905) trägt den Titel «Une barque sur l’océan» und suggeriert mit seinen sanften Arpeggio-Klängen – sinnigerweise – ein Boot, auf dem Ozean. Gut sieben Minuten dauert das Stück, und wer es sich anhört, wird sich sehr gut eine bescheidene Barke vorstellen können, die von der launischen Meeresströmung mal hierhin, mal dorthin getrieben wird. Vielleicht kommt der Mast hie und da ins Wanken; womöglich droht ein- oder zweimal sogar eine Havarie. Doch Ravel spart die Katastrophe aus: Am Ende der sieben Minuten scheint das Boot immer noch zu segeln, den Tücken des Ozeans immer noch zu trotzen, immer noch auf dem Weg an sein Ziel zu sein – wo auch immer dieses sein mag.
Es ist letztendlich nicht schwer, zu erkennen, warum Christian Petzold, der deutsche Regisseur und Autor hinter elegant-literarischen Dramen wie «Barbara» (2012), «Transit» (2018), «Undine» (2020) und «Roter Himmel» (2023), seinen neuesten Film nach Ravels Stück benannt hat – abgesehen von der Tatsache, dass unvollständige Rezitale davon an verschiedenen Punkten der schlanken 86-minütigen Laufzeit vorkommen. Wie die meisten seiner Filme ist auch «Miroirs No. 3» ein gewollt unspektakuläres, leise brodelndes Melodrama, dessen Figuren mit Verlust, Trauer, Identitätskrisen, der Rückkehr des Verdrängten und der Frage, ob man sich selbst – geschweige denn andere Menschen – jemals wirklich kennen kann, umgehen müssen. Und wie die meisten seiner Filme scheint auch «Miroirs» zunächst nur darauf zu warten, auf- und auszubrechen, damit sich all der unausgesprochene Schmerz und all die angestaute psychosexuelle Frustration seiner Figuren entladen können.

Paula Beer in «Miroirs No. 3» / © Filmcoopi
Zumindest zeichnet sich so etwas scheinbar schon in den Anfangsminuten ab. Laura (Paula Beer) wandelt wie ein Phantom durch eine besonders unattraktive Ecke von Berlin: hier eine stark befahrene Brücke, da ein (fast) menschenleerer Flussabschnitt. Beides wären geeignete Suizidorte, scheint der Film anzudeuten. Aber dann geht Laura doch nach Hause, wo schon ihr Freund (Philip Froissant) ungeduldig auf sie wartet: Ob sie das geplante Wochenende im Umland vergessen habe – denn dort müssten sie nun unbedingt hin, damit er mit einem Musikproduzenten seinen Plattenvertrag unter Dach und Fach bringen kann. Wenn die Beziehung jemals eine liebevolle war, dann liegt das wohl schon eine Weile zurück. Jedenfalls legt das Paula Beers angespannte, duckmäuserische Körpersprache nahe.
«Was als potenzielles Trennungsdrama beginnt, verwandelt sich relativ rasch in eine wunderbar beobachtete Skizze von vier enigmatischen, letztlich nur grob fassbaren Figuren, die sich in einer unverhohlen melodramatisch-künstlichen Situation wiederfinden.»
Doch im Unterschied zu einem Film wie «Phoenix» (2014) – Petzolds Meisterwerk und derjenige seiner Filme, dem «Miroirs» handlungstechnisch und thematisch wohl am nächsten ist –, steuert dieser jüngste Wurf eben nicht auf einen Ausbruch, eine Eruption von Gefühl, oder gar Gewalt, zu. Kaum am Ausflugsort angekommen, will Laura wieder nach Hause; ihr Freund will sie zum Bahnhof fahren, baut einen Autounfall und stirbt noch an Ort und Stelle. Laura hingegen überlebt, mit kaum mehr als ein paar Kratzern – und quartiert sich kurzerhand bei Betty (Barbara Auer) ein, die gleich neben der Unfallstelle ein für sie allein im Grunde viel zu grosses Haus bewohnt. Betty, das wird sofort klar, hat auch das eine oder andere Trauma mit sich herumzutragen; und womöglich kann ihr Laura sogar dabei helfen, die zerrüttete Beziehung zu ihrem Ehemann (Matthias Brandt) und ihrem erwachsenen Sohn (Enno Trebs) zu kitten.
Was als potenzielles Trennungsdrama im «Undine»-Stil beginnt, verwandelt sich relativ rasch in eine wunderbar beobachtete Skizze von vier enigmatischen, letztlich nur grob fassbaren Figuren, die sich in einer unverhohlen melodramatisch-künstlichen Situation wiederfinden – in ein zärtlich sanft gezeichnetes Porträt von, wenn man so will, vier Booten, die sich der stürmischen See stellen, alles daransetzen, nicht unterzugehen, und schliesslich hinter dem Horizont verschwinden.

Barbara Auer in «Miroirs No. 3» / © Filmcoopi
Man kann Petzold vorwerfen, dass er hier nicht nur das Rad nicht neu erfindet, sondern lediglich wohlbekannte und bereits mehrfach bearbeitete Versatzstücke aus seinem eigenen Werk mehr oder weniger neu zusammensetzt. Das Bild von Paula Beer auf dem Fahrrad dürfte dem geneigten Petzold-Publikum (dank «Roter Himmel») ebenso vertraut sein wie emotional aufgeladene Doppelgänger*innen («Phoenix» und «Transit» lassen grüssen) und grenzüberschreitende Begierden (hallo, «Undine»).
Doch auch das passt irgendwie zur Zurückhaltung, in der sich «Miroirs» übt. So wie die UdK-Klavierstudentin Laura aus der Entschleunigung neue Kraft schöpft – wunderschön, mitanzusehen, wie sie beim Zaunstreichen, Klopsekochen und Unkrautjäten langsam ihr Lächeln wiedererlangt –, so wirkt der Film bisweilen wie eine absichtlich unaufgeregte Fingerübung, ein selbsttherapeutisches Verweilen im Bekannten, bevor man (vielleicht) zu neuen Gestaden aufbricht.
«Wer sich ‹Miroirs No. 3› mit offenen Augen und Ohren nähert, wird mit einem enorm reichhaltigen Film voller kleiner Gesten, raffinierter Schnittentscheidungen und suggestiver Schauspielminiaturen belohnt.»
Selbst das designierte Mysterium, das dem Film seine Spannung verleiht – die Frage, warum Betty ihre unverhoffte Untermierterin mit derart offenen Armen empfängt –, ist praktisch keines. Dafür sind die Indizien schlicht zu offensichtlich. Das kann man für uninspiriertes Drehbuchschreiben halten, doch die äusserst positive Kehrseite dieses vermeintlichen «Mangels» ist, dass Petzold mehr Zeit hat, mit seinen Schauspieler*innen die unvollkommene Menschlichkeit ihrer Figuren zu ergründen. Paula Beer und Barbara Auer, die sich während Lauras erster Nacht einen verstohlenen, aber vielsagenden Blick zuwerfen; Matthias Brandts herrlich gespielte Verlegenheit, als er nach einigen harten Worten an Betty merkt, dass Besuch da ist; die gequälte Zuvorkommenheit, mit der Enno Trebs seine inopportune Zuneigung für Laura zu überspielen versucht: Wer sich «Miroirs» mit offenen Augen und Ohren nähert, wird mit einem enorm reichhaltigen Film voller kleiner Gesten, raffinierter Schnittentscheidungen und suggestiver Schauspielminiaturen belohnt.

Enno Trebs, Matthias Brandt, Barbara Auer und Paula Beer in «Miroirs No. 3» / © Filmcoopi
«Die Auflösung ist von einer unaufdringlichen novellistischen Eleganz, wie man sie ausserhalb des Kinos von Ryūsuke Hamaguchi nur selten antrifft.»
Und Petzold hält die Zurückhaltung durch, bis zur letzten Sequenz, die auf melodramatische Konfrontation hinauszulaufen scheint, sich stattdessen aber für stille Empathie und emotionale Grosszügigkeit entscheidet. Möglicherweise ist diese Auflösung etwas gar simpel und sauber geraten, aber gleichzeitig ist sie auch von einer unaufdringlichen novellistischen Eleganz, wie man sie ausserhalb des Kinos von Ryūsuke Hamaguchi («Drive My Car», «Evil Does Not Exist») nur selten antrifft. Andeutung und Offenheit erhalten den Vorzug vor einem hermetischen Abschluss, wobei Petzold das Gefühl vermittelt, dass, nur weil der Film vorbei ist, dasselbe nicht für seine Figuren gelten muss: Für sie geht die Reise weiter; wir verlieren sie lediglich aus den Augen, wie Boote auf dem Ozean.
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Kinostart Deutschschweiz: 9.10.2025
Filmfakten: «Miroirs No. 3» / Regie: Christian Petzold / Mit: Paula Beer, Barbara Auer, Matthias Brandt, Enno Trebs / Deutschland / 86 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi
Christian Petzold verfolgt mit «Miroirs No. 3» bescheidenere Ambitionen als auch schon. Doch dieser «Sparflammenmodus» hat seinen ganz eigenen Reiz. Ein wunderbares kleines Melodrama.
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