Getragen von einer lakonischen Melancholie und einem grossartigen Ensemble erzählt Lars Jessen in seiner Verfilmung von Dörte Hansens Bestseller «Mittagsstunde» eine Geschichte über Heimat, Familie und ländlichen Strukturwandel.
Anstatt den Gasthof in seinem Heimatdorf Brinkebüll im Norden Deutschlands von seinem Vater zu übernehmen, hat Ingwer Feddersen (Charly Hübner) den Weg nach Kiel eingeschlagen, wo er mit Ende 40 als Dozent an der Uni arbeitet und in einer Dreier-WG mitsamt geteiltem Bett mit Ragnhild (Julika Jenkins) und Claudius (Nicki von Tempelhoff) lebt. Doch eines Tages gerät das alles ins Wanken: Weil er sich um «Mudder» und «Vadder» kümmern will, verkündet Ingwer überraschend, für ein Jahr nach Brinkebüll zurückkehren zu wollen.
Im vom Strukturwandel gezeichneten Brinkebüll, wo die Dorfläden einer vielbefahrenen Landstrasse Platz machen mussten und kaum noch junge Leute wohnen, steht sein Vater Sönke (Peter Franke, in Rückblenden Rainer Bock) weiterhin jeden Tag hinter dem Tresen seines Gasthofs. Neben den paar wenigen alteingesessenen Brinkebüllern bildet die örtliche Line-Dance-Gruppe seine noch verbliebene Stammkundschaft. Ingwers Mutter Ella (Hildegard Schmahl, in Rückblenden Gabriela Maria Schmeide) ist von ihrer fortschreitenden Demenz sichtlich gezeichnet. Wenn sie nicht gerade ihre Hände in warmen Reis taucht, ihr Lieblingsvideo schaut oder ihren Ehemann kneift, schleicht sie sich am liebsten aus dem Haus zum ehemaligen Schulhaus.
Und so bildet der Gasthof der Eltern so etwas wie das letzte Überbleibsel von dem Brinkebüll, in dem Ingwer mit seiner Schwester Marret (Gro Swantje Kohlhof) aufwuchs. Und auch Marret lebt längst nicht mehr in Brinkebüll – bloss ihre Fussabdrücke im Beton hinterm Haus deuten noch auf ihre einstige Anwesenheit hin.
Um Marrets Schicksal dreht sich denn auch der Grossteil der mit der Gegenwartshandlung verwobenen Rückblenden vom Brinkebüll der Sechziger- und Siebzigerjahre. Erst nach und nach setzen sie sich mit den Ereignissen der Gegenwart zu einem Ganzen zusammen, das die Feddersens und deren Verhalten in neuem Licht erscheinen lässt.
«Lars Jessen ist mit ‹Mittagsstunde› eine äusserst gelungene Romanadaption geglückt. Zielgenau trifft er den richtigen Ton: Lakonisch, voller Melancholie und mit einer Prise Humor, aber ohne Sentimentalitäten, erzählt er von Familie, Heimat und den Folgen des Strukturwandels.»
2018 erschien «Mittagsstunde», der zweite Roman der Autorin Dörte Hansen, und avancierte sogleich zum Bestseller, der nicht zuletzt für seine präzise Schilderung der plattdeutschen Provinz gelobt wurde. Nun ist Lars Jessen, der 2009 bereits bei der erfolgreichen Literaturverfilmung «Dorfpunks» Regie führte, mit «Mittagsstunde» eine weitere äusserst gelungene Romanadaption geglückt. Zielgenau trifft er den richtigen Ton: Lakonisch, voller Melancholie und mit einer Prise Humor, aber ohne Sentimentalitäten, erzählt er von Familie, Heimat und den Folgen des Strukturwandels. Weder werden die kauzigen Figuren dabei je dem Spott des Publikums preisgegeben, noch versucht Jessen, Mitleid für sie zu schüren. Stattdessen werden sie von ihm und der ausnahmslos grossartig agierenden Schauspielriege mit grosser Sympathie und voller Respekt für ihre Eigenarten porträtiert.
Stärker noch als im Buch steht im Film Ingwer Feddersen im Zentrum der Geschichte. Dementsprechend hoch ist der Anteil, den Hauptdarsteller Charly Hübner («Vor der Morgenröte», «Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush») zum Gelingen des Films beiträgt. Da es im Film im Gegensatz zum Buch keinen allwissenden Erzähler gibt, der uns die verschiedenen Figuren und deren Innenleben näherbringen kann, kommt diese Brückenfunktion im Film Ingwer zu, der als Vermittler zwischen der Welt des Publikums und der Welt Brinkebülls fungiert. Mit einer norddeutsch-knurrigen und doch warmherzigen Art, ohne jede Tendenz zu Klamauk oder Pathos, stemmt Hübner diese Aufgabe famos.
Auch visuell weiss der Film über weite Strecken zu gefallen. Die Zeitebenen tragen alle einen unterschiedlichen Look in Sachen Ausstattung und Farbgebung, und die Veränderungen, die Brinkebüll durchläuft, werden optisch ebenfalls stimmig in Szene gesetzt. Nur in einigen wenigen Szenen rutscht der Film in eine etwas gar lieblose TV-Ästhetik ab, etwa bei den Line-Dance-Szenen im Gasthof.
«Stärker noch als im Buch steht im Film Ingwer Feddersen im Zentrum der Geschichte. Dementsprechend hoch ist der Anteil, den Hauptdarsteller Charly Hübner zum Gelingen des Films beiträgt. Mit einer norddeutsch-knurrigen und doch warmherzigen Art, ohne jede Tendenz zu Klamauk oder Pathos, stemmt Hübner diese Aufgabe famos.»
Ebenfalls zugutehalten muss man dem Film seinen Mut zur Leerstelle. Nicht jeder Konflikt, nicht jedes Verhalten seiner Figuren wird vom Drehbuch mit einer klärenden Szene aufgelöst. Und das passt wunderbar zu der eher verschlossenen Art der Brinkebüller, wo man vieles auch einfach mal unkommentiert im Raum stehen lässt.
Umso mehr überrascht es dann aber, dass Jessen ganz am Schluss dann doch auf typische Hollywood-Ästhetik setzt, wenn er den Film in einer von einem rührseligen Popsong begleiteten Montagesequenz enden lässt. Wohlverstanden, diese letzten Minuten sind durchaus angenehm anzuschauen und schaffen es, einen mit einem melancholisch-wohligen Gefühl aus dem Film zu entlassen. Doch so ganz will diese Art von Ende nicht zum norddeutschen Brinkebüll, zu den Figuren und zur Geschichte überhaupt passen. Zu harmonisch, zu glatt, ohne jedes Knarzen im Gebälk.
Noch zu bemerken ist an dieser Stelle, dass «Mittagsstunde» in zwei Versionen vorliegt: einmal in einer plattdeutschen Fassung mit Untertiteln, einmal in einer komplett hochdeutschen Fassung, wobei es allen ans Herz zu legen ist, sich für Erstere zu entscheiden.
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Filmfakten: «Mittagsstunde» / Regie: Lars Jessen / Mit: Charly Hübner, Gro Swantje Kohlhof, Rainer Bock, Gabriela Maria Schmeide, Peter Franke, Hildegard Schmahl, Lennard Conrad / Deutschland / 97 Minuten
Bild- und Trailerquelle: ©Majestic / Christine Schroeder
«Mittagsstunde» gelingt es vortrefflich, seine Romanvorlage ins Filmische zu übersetzen. Was zu Beginn noch bruchstückhaft wirkt, fügt sich letztlich wunderbar zu einem Ganzen zusammen.
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