Wir waren an der Diagonale’23, einem modernen und innovativen Filmfestival in Graz, das keine Grenzen kennt – mindestens im Film.
Sechs Tage dauerte die Diagonale’23, die mit 33’800 Besucher*innen sehr gut besucht war. Und obwohl die Diagonale kein Filmfestival ist, das kommerzielle Filme im Fokus hat, waren die meisten Vorstellungen ausverkauft: Die Festivalverantwortlichen sprechen von 81 Prozent Kinoauslastung.
Die Diagonale ist die umfassende Jahresfilmschau des österreichischen Filmschaffens, die jegliche Genres abdeckt. Schon nach einem kurzen Konsultieren des Filmprogramms wird klar, dass die österreichische Filmlandschaft nur so vor gewagten Filmschaffenden strotzt. Wer sich hier auf eine Entführung in unbekannte Gewässer einlässt, wird belohnt mit schönen Bildern und spannenden Geschichten, erzählt aus neuen Blickwinkeln aus.
Bereits das Kunstmuseumsgebäude, das wie ein Wesen aus einem Ghibli-Anime neben den kleinen bunten Grazer Herrschaftshäusern schlummert, lässt erahnen, wie wichtig den Grazer*innen die moderne Kunst ist. Dies wird auch durch den Kurzfilm-Block «Innovatives Kino» bestätigt: Die Reise führt von der abstrakten «Behämmerung» eines Ambosses bis hin zu hüpfenden Hochhäusern. Manchmal wird starke Kritik am Staat ausgeübt, manchmal nur gehämmert. Das Geschichtenerzählen rückt in diesem Kurzfilmblock in den Hintergrund; im Mittelpunkt stehen die von der Abstraktion ausgelösten Gefühle.
Experimentelle Kurzfilme
Und doch gibt es auch in diesem experimentellen Block Kurzfilme, die es schaffen, das Publikum so in den Bann zu ziehen, dass man das Gefühl hat, eine Lebensgeschichte gesehen zu haben. «Wo ich wohne» von Susi Jirkuff etwa erzählt auf kreative und beklemmende Weise vom sozialen Abstieg einer Frau während des Zweiten Weltkriegs. Die Geschichte wird gekonnt mit Bleistiftzeichnungen untermalt und regt zum Denken an. Die Protagonistin weiss nie, wann ihre Wohnung einen Stock weiter nach unten befördert wird. Zuerst fühlt sie sich hilf- und ratlos, doch schnell akzeptiert sie ihr neues Schicksal. «Wo ich wohne» erzählt auf subtile und albtraumartige Weise von einer Überlebensstrategie.
«gewesen sein wird» von Sasha Pirker wiederum ist eine Kurzdoku, die weniger mit Metaphern und mehr mit Fakten spielt. Die Tochter (Lilli Breuer-Guttmann) zeigt die Wohnung ihres verstorbenen Künstlervaters, des exzentrischen Heinz Frank. Seine Wohnung war sein Rückzugsort, aber auch ein Kunstprojekt. Die Führung durch die extravagante Wohnung ist teils lustig, teils auch mit Wehmut belastet. Die einzelnen Kurzfilme könnten verschiedener nicht sein, und gerade das macht die Kombination in einem Themenblock so spannend.
Ebenfalls erwähnenswert ist «Matter Out of Place» von Nikolaus Geyrhalter. «Matter out of place» beschreibt einen Gegenstand, der nicht von dem Ort stammt, an dem er sich gerade befindet – in diesem Fall Müll. Und dass es auf der Erde mehr als genug Müll gibt, demonstiert Geyrhalter mit seinem Dokumentarfilm. Er besucht verschiedene Orte auf der Welt: Nepal, die Schweiz (sogar zweimal), die Malediven, Nevada und nicht zuletzt Österreich – und zeigt, wie Menschen an verschiedenen Orten mit der Herausforderung Müll klarzukommen versuchen. Praktisch ohne Dialog sieht das Publikum während fast zwei Stunden Menschen beim Entsorgen zu. Das ist teils spannend und informativ, teils aber auch ermüdend. Die Arbeit der Menschen wird ungeschminkt wiedergegeben, und diese ist nun einmal repetitiv und endlos. Somit trifft der Film genau den richtigen Nerv. Entsprechend ist es auch die Absicht der Filmschaffenden, das Publikum zum nachhaltigen Verhalten zu bewegen.
Ein weiterer Dokumentarfilm, der wenig wertgeschätzte Arbeit auf eine ähnliche Weise zeigt, ist «Archiv der Zukunft» von Joerg Burger. Während eineinhalb Stunden wird hier die Arbeit hinter den Kulissen des Naturhistorischen Museums in Wien abgebildet. Wie viele Menschen mitwirken – Forscher*innen wie Freiwillige –, würde so manche erstaunen. Dass die Arbeit von gesellschaftlicher Bedeutung ist und finanziert werden muss und soll, gehört zu den Kernaussagen von Burgers Film.
Wem nach so vielen neuen Eindrücken der eigene Kopf brummte, konnte sich mit einem Film aus den Neunzigerjahren entspannen: In Michael Glawoggers Dokumentarfilm «Frankreich, wir kommen» (1999) begleitet das Publikum die österreichische Männer-Fussballnationalmannschaft, ihre Fans, Freunde und Helfer auf ihrer Reise zur Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich. Ist man nun in einem Kino oder doch in einem Fussballstadion? Beides ist realistisch, denn bei jedem Tor wird im Kinosaal gejubelt, als wäre es eine Live-Übertragung und nicht ein 25 Jahre altes Fussballspiel.
Einer der wenigen fiktionalen Filme, die wir in Graz schauten, war der Eröffnungsfilm «La Bête dans la jungle» von Patric Chiha. Die Geschichte handelt von May (Anaïs Demoustier) und John (Tom Mercier), die sich über 20 Jahre hinweg in einem Pariser Club treffen und nicht aus ihren Gewohnheiten auszubrechen vermögen. Der Film ist attraktiv: von den Schauspieler*innen über die Kostüme bis hin zur Musik. Und dennoch schafft er es aufgrund der Distanziertheit seiner Figuren nicht, im grossen Stil zu berühren. Die berührenden (Dokumentar-)Filme, die es sonst an der Diagonale zu sehen gab, stellten den Eröffnungsfilm in den Schatten: Am Ende des Festivals war er fast schon in Vergessenheit geraten.
«Spezifische Geschlechterrollen, genormte Erzählarten im Film und einschränkende Genres waren gestern. An der Diagonale’23 ist Kunst Film, Film Kunst. Und der Kunst ist bekanntlich keine Grenzen gesetzt.»
«Liebe Männer, denkt an die Frauen in meinem Alter… beim Drehbuchschreiben»: So endete Schauspielerin Margarethe Tiesel («Paradies: Liebe») ihre Diagonale-Eröffnungsansprache. Damit sprach sie ein bekanntes Problem im Showbusiness an. Auch Österreich ist wohl kaum davon ausgeschlossen, doch war an der Diagonale spürbar, dass eine Veränderung gewünscht und im Gang ist: Spezifische Geschlechterrollen, genormte Erzählarten im Film und einschränkende Genres waren gestern. An der Diagonale’23 ist Kunst Film, Film Kunst. Und der Kunst ist bekanntlich keine Grenzen gesetzt.
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