Ein sechsjähriger kurdischer Junge erlebt das Auseinanderbrechen seines kleinen Dorfes, das für ihn die ganze Welt bedeutet, als das an die Macht geputschte Regime von Hafiz al-Assad, dem Vater des heutigen Diktators Baschar al-Assad, die Juden zum Feind erklärt und das Land mit absurden nationalistischen Ideen überrollt. Mit viel Gefühl, einer Prise Humor und wohldosierter Satire ist Mano Khalil mit «Nachbarn» ein grossartiger Film aus Kinderperspektive über Loyalität, Respekt, Angst und Hoffnung gelungen.
Als zwischen Syrien und der Türkei in den 1980er Jahren ein Grenzzaun errichtet, Familien getrennt, die kurdische Kultur unterdrückt und die Juden zum Feind erklärt werden, ziehen sich auch unsichtbare Grenzen durch die Nachbarschaft, die das friedlichen Zusammenleben zwischen Juden, Kurden und Arabern zunehmend zerstört.
Der sechsjährige Sero (hervorragend: Serhed Khalil) sieht seinem ersten Schultag nur mit mässiger Spannung entgegen. Viel lieber spielt er mit seinem Onkel Aram (Ismail Zagros) oder seinen Freunden, ärgert mit ihnen die türkischen Grenzsoldaten, indem sie Luftballons in den kurdischen Nationalfarben aufsteigen lassen, die von den Wachtürmen aus mühsam abgeschossen werden müssen. Am Schabbat darf er die Lichter seiner jüdischen Nachbarn anzünden und hofft, dass er endlich einen Fernseher bekommt, um sich Trickfilme anschauen zu können. Dass er Arabisch lernen muss, um fernzusehen, wie sein Vater Salim (Heval Naif) erklärt, findet er unnötig, denn die Cartoons sprechen mit ihren Bildern ja für sich.
Ein Lehrer (Jalal Altawil), extra aus Damaskus angereist, soll diese frechen Kinder endlich erziehen, so sind sich die drei alten Männer einig, die gegenüber der Schule in ihrem schattigen Plätzchen den ganzen Tag verweilen und das Geschehen im Dorf mürrisch beobachten. Schon am ersten Schultag wird aber klar, dass dies kein Ort zum Lernen ist, sondern eine Stätte, um die Kinder nach Diktator Assads Idealen zu erziehen. Der Lehrer verbietet die kurdische Sprache, sein Schlagstock sitzt locker in der Hand, und er predigt Hass auf die Juden, die Befreiung Palästinas und für den Tod Israels.
Der kleine Sero ist verwirrt, bleibt stumm, weil er kein Arabisch versteht, und schreit jeden Morgen beim Fahnengruss die Parole der älteren Schüler nach, ohne zu wissen, was sie bedeuten. Und mit Wörtern wie Zionismus oder Palästina kann keines der Kinder etwas anfangen, aber aus Angst vor dem Schlagstock fragen sie auch nicht. Stattdessen graben sie lieber Landminen aus und versuchen, sie zur Explosion zu bringen; oder sie spielen dem hustenden Imam einen Streich, während er ins Mikrofon der Moschee krächzt.
Die Interaktionen zwischen Lehrer und Schulklasse sind hervorragend gespielt. Trotz seiner Autorität verstehen es die Kinder, sich über ihn lustig zu machen, und zusammen mit dem trotteligen Hausmeister, der ebenfalls in der Klasse sitzt, um endlich lesen und schreiben zu lernen, gibt er ein manchmal urkomisches Bild ab – nicht zuletzt für die drei schrulligen Alten.
Es sind die kleinen alltäglichen Momente, von denen «Nachbarn» erzählt, die den Film und seine Figuren so stark wirken lassen
Es sind die kleinen alltäglichen Momente, von denen «Nachbarn» erzählt, die den Film und seine Figuren so stark wirken lassen: der kleine Sero, der bei den jüdischen Nachbarn ein- und ausgeht und dann plötzlich keinen Kuchen mehr von ihnen annimmt, da der Lehrer sagt, er werde aus Kinderblut gemacht; oder wie sich das Kopftuch der Grossmutter im Stacheldraht verheddert, als sie ihre Familie auf der anderen Seite des Grenzzauns begrüssen will. Die Entwicklungen im Dorf und in der Nachbarschaft werden schliesslich auch für Sero greifbar, und als er hemmungslos auf eine Strohpuppe einsticht, ist dieses ohnmächtige Gefühl herzzerreissend spürbar – denn irgendwie muss sich auch seine Wut entladen.
«Nachbarn» ist stark geprägt von den Kindheitserinnerungen des kurdischstämmigen Schweizer Regisseurs Mano Khalil («Unser Garten Eden»). Anstelle einer Dokumentation hat er sich, wie schon 2016 mit «Die Schwalbe», für einen Spielfilm entschlossen. Während in «Die Schwalbe» die Wunden der politischen Vergangenheit aufgearbeitet wurden, stehen in «Nachbarn» die Erinnerungen eines Kindes, das vom Assad-Regime indoktriniert werden soll, im Vordergrund, was ebenfalls der Aufarbeitung dient, und nun mit einem eigenen Film gewürdigt wird.
Khalils Film gibt trotz der tristen Thematik dennoch Anlass zur Hoffnung, denn er zeigt auf, dass es trotz aller Unterdrückung durch das Regime heitere Momente im Leben der Menschen gibt und sich für einige von ihnen auch ungeahnte Wege eröffnen. Das zeigt sich vor allem in der bunten und vielschichtigen Erzählung, die es erlaubt, den Menschen im Dorf sehr nahe zu kommen. Der Film gibt ihnen ein Gesicht, eine Geschichte und die dazugehörenden Befindlichkeiten in einer komplizierten Zeit. Sehr deutlich wird das in der Rahmenhandlung des Films, wo der erwachsene Sero, wie tausende andere Menschen, deren Geschichten man nicht kennt, in einem riesigen Geflüchtetenlager wartet und hofft.
Khalils Film gibt trotz der tristen Thematik dennoch Anlass zur Hoffnung, denn er zeigt auf, dass es trotz aller Unterdrückung durch das Regime heitere Momente im Leben der Menschen gibt und sich für einige von ihnen auch ungeahnte Wege eröffnen.
Aus der Sicht des sechsjährigen Sero erzählt, gelingt es «Nachbarn» zwar nicht immer, auf der Ebene des Kindes zu bleiben, was aber auch daran liegen könnte, dass die Stimme aus dem Off von einem Erwachsenen gesprochen wird. Angesichts der berührenden Figuren und der Intensität ihrer Geschichte darf man aber getrost über diesen Bruch hinwegsehen, denn im Grunde wurde der kleine Sero letztlich ja sehr viel schneller erwachsen als ihm lieb war.
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Kinostart Deutschschweiz: 14.10.2021
Filmfakten: «Nachbarn» / Regie: Mano Khalil / Mit: Serhed Khalil, Ismail Zagros, Derya Uygurla, Heval Naif, Jalal Altawil, Jay Abdo, Ahmed Zirek / Schweiz, Frankreich / 124 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Frenetic Films AG
In Mano Khalils sensiblem und feinhumorigem Drama «Nachbarn» gewinnt das Wort Hoffnung eine neue Bedeutung. Eine grandios erzählte Geschichte aus dem Syrien der 1980er Jahre.
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[…] Bozner Filmclub stellt den Nachbarn von Khalil am Donnerstag (7. April, 20 Uhr) bei den Filmtagen vor. […]