Irgendwann scheint sich Schauspielenden die Frage zu stellen, ob man weiter vor der Kamera oder doch lieber hinter der Kamera agieren soll. Diesen Versuchen konnten zumindest im deutschsprachigen Raum einige Personen nicht widerstehen: Til Schweiger («Keinohrhasen») und Matthias Schweighöfer («What a Man»), debütierten mit Komödien als Regisseure und feierten Erfolge; Moritz Bleibtreu versuchte es mit einem Mysterythriller («Cortex») und scheiterte grandios. Daniel Brühls Regiedebüt, das schwarzhumorige Drama «Nebenan», gelingt ein galanter Mittelweg, der sich vom Genre her deutlich von den Werken der Kollegen unterscheidet. Bedingt durch die Corona-Lockdowns und ihre Einschränkungen, entstand eine interessante Geschichte in reduzierter Form, die sich durchaus sehen lassen kann.
Daniel (Daniel Brühl), ein deutsch-spanischer Schauspieler mit Dachterrassenwohnung in Berlin-Prenzlauer Berg, zwei Kindern, Frau und einer Nanny, bereitet sich auf ein Casting in London vor, wo er für die Rolle in einem Superheldenfilm vorsprechen soll. Sein morgendliches Ritual – vom Sport über die Wahl seines Outfits bis hin zum Frühstück – ist perfekt aufeinander abgestimmt und zeigt das Leben eines erfolgsverwöhnten Superstars. Da bis zum Abflug noch Zeit bleibt, kehrt er spontan in seine Stammkneipe ein, um bei der schrulligen Wirtin (Rike Eckermann) einen Filterkaffee zu trinken und seinen Text durchzugehen. Denn dort ist es ruhig und es verirren sich keine Fans hinein.
Doch mit der Ruhe ist es schnell vorbei, denn Bruno (Peter Kurth) sitzt bereits am Tresen, gönnt sich sein Frühstücksbier, lässt sich ein Autogramm von Daniel auf eine Serviette kritzeln, und provoziert den eitlen Star damit, dass er seine Filme für schlecht befindet. Seine scheinbar freundlichen Worte sind gespickt mit Beleidigungen, er lässt kein gutes Haar an Daniels Filmkunst. Dieser reagiert zunächst beleidigt, geht jedoch auf Konfrontation und buhlt um Sympathien. Bruno, ein Verlierer der Wiedervereinigung, lebt weniger schick in der Wohnung gegenüber jener von Daniel und wundert sich nicht, dass er von ihm noch nie wahrgenommen wurde – immerhin kennt Daniel ja weder den Namen der Wirtin, in deren Eckkneipe er sich gerne entspannt, noch weiss er, was seine Frau so macht, wenn er tagelang am Filmset steht. Während Daniel versucht, scheinbar wichtige Telefonate mit amerikanischen Produzenten zu führen, füttert ihn Bruno häppchenweise mit brisanten Details aus seinem Leben.
«Es entsteht ein intensiver werdender Schlagabtausch zwischen dem Superstar und dem ‹einfachen Mann› von nebenan, der es nicht gelten lässt, dass sich Daniel als Berliner ausgibt, nur weil er schon seit 20 Jahren hier lebt.»
Es entsteht ein intensiver werdender Schlagabtausch zwischen dem Superstar und dem «einfachen Mann» von nebenan, der es nicht gelten lässt, dass sich Daniel als Berliner ausgibt, nur weil er schon seit 20 Jahren hier lebt. Daniel steht hier vor seinem schärfsten Kritiker, der ihm alles andere als wohlgesinnt ist und schonungslos die sozialen Ungerechtigkeiten – und eben – sehr viel Privates aufdeckt. Doch was genau will Bruno überhaupt?
Dieses dialogstarke Duell, in dem auch Themen wie Gentrifizierung und politische Positionen behandelt werden, wird hauptsächlich und nahezu in Echtzeit in der Eckkneipe geführt – ein Kammerspiel, deren ruhige Kameraführung die Dramaturgie in den Mittelpunkt stellt und die Hektik der Handlung und der Dialoge sich selbst überlässt. Wohl deshalb wurde hier auch auf untermalende Musik verzichtet. Die einzige zusätzliche Geräuschkulisse besteht aus Seufzern, Gesprächspausen und unverständlichen Sätzen vom Stammtischtrinker (Gode Benedix) aus der hinteren Wirtshausecke.
«Ein sehenswertes Duell zwischen zwei grossartigen Darstellern – und eine grosse Leistung für Brühl, der hier nicht nur seine eigene Eitelkeit aufs Korn nimmt, sondern dabei seine ganze Kohorte vertritt.»
Schauspielerisch kämpfen Kurth («Babylon Berlin», «In den Gängen») und der jüngere Brühl («Good Bye, Lenin!», «Rush», «Captain America: Civil War») hier geradezu darum, wer unsympathischer rüberkommt. Ein sehenswertes Duell zwischen zwei grossartigen Darstellern – und eine grosse Leistung für Brühl, der hier nicht nur seine eigene Eitelkeit aufs Korn nimmt, sondern dabei seine ganze Kohorte vertritt. Grossartig zu sehen, wie er sich dieser Herausforderung stellt – und im Film seinem Gegner dramaturgisch doch unterliegt. Aber egal, denn es ist fraglich, ob es am Ende überhaupt einen Gewinner gibt.
Ein weiterer kluger Schachzug in Brühls Regiedebüt war es, seine Idee vom Romancier Daniel Kehlmann («Ich und Kaminski», «Die Vermessung der Welt») zu einem Drehbuch verarbeiten zu lassen und sich in der Folge nicht zu schade zu sein, einen eitlen Künstler darzustellen, der sich selbst sehr wichtig nimmt. So lässt Brühls Erstlingswerk die Grenzen zwischen Filmfigur und eigenem Ich verschwimmen, und durch viele unerwartete Wendungen ist Spannung bis zum Schluss garantiert.
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Kinostart Deutschschweiz: 15.7.2021 / Auf Netflix Schweiz
Filmfakten: «Nebenan» / Regie: Daniel Brühl / Mit: Daniel Brühl, Peter Kurth, Rike Eckermann / Deutschland, USA / 94 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © 2021 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.
Ein dialogstarker Schlagabtausch zwischen Daniel Brühl und Peter Kurth: «Nebenan» zeigt, dass auch der beste Schauspieler seine Eitelkeit abstreifen muss, wenn er mit der Realität konfrontiert wird.
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