Normalerweise interessiert sich ein Krimi an der Auflösung eines Mordes. Das tut die Krimi-Miniserie «Collateral» von David Hare zwar auch, aber legt den Fokus vielmehr auf das Kennenlernen der Charaktere, die mit dem Opfer in Kontakt getreten sind. Wir blicken ins Innere des Mörders, ins Innere der Ermittler und vor allem ins Innere britischer Institutionen, die wie die Menschen ihre Schattenseiten haben. «Collateral» verwebt das ‚Kaleidoskop Grossbritannien’ auf ästhetische, atmosphärisch dichte und äusserst spannende Weise, verbindet Themen wie Menschlichkeit, Isolation und politische Verantwortung auf eine intelligente Art und glänzt mit einer starken Leistung von Carey Mulligan («Shame», «Drive») als Detective Inspector Kip Glaspie – einer der besten Serienformate aus dem Hause BBC seit «Broadchurch».
Der Pizza-Bote Abdullah Asif (Sam Otto) wird in London auf offener Straße erschossen. War es ein unmotivierter Akt der Gewalt? Für Detective Inspector Kip Glaspie (Carey Mulligan) spricht Einiges dagegen. Nicht nur erscheint die Art und Weise des Mordes mehr wie die Tat eines Profis, auch der Fakt, dass der Betreiber des Pizza-Dienstes ausserplanmässig den syrischen Flüchtling und nicht den sonst üblichen Lieferanten losgeschickt hat, ist seltsam. Dazu kommt, dass die Familie des Ermordeten gegenüber der Polizei eingeschüchtert wirkt – sie finden sie versteckt in einer Garage. Und haben vielleicht der Parlamentsabgeordnete David Mars (John Simm) und dessen Ex-Frau Karen (Billie Piper), vor deren Haus die Schüsse fielen, etwas mit der Sache zu tun? Oder ist sogar die vermeintliche Zeugin, eine illegale Einwanderin, die mit einer lesbischen Vikarin zusammen ist, auch eine Verdächtige in diesem anfangs sinnlos erscheinenden Mord an einem syrischen Flüchtling? Eins vorweg: Alle spielen sie eine wichtige Rolle, sind sie doch alles Puzzle, die es zusammenzusetzen gilt.
Die Nation am Abzug.
Die Aufdeckung des Mordes ist zugleich eine Aufdeckung festverankerter Institutionen. Weder Kirche, noch Polizei, das Militär oder die Politik können ihre weisse Weste halten. Wehe dem, der die fest verankerten Denkweisen bricht und sich nicht an die Regeln hält. Und schon gar nichts will man wissen, von Feinden von Aussen, die die innerer Stabilität bedrohen. Und so wird der Migrant und Pizzabote Abduhl nicht Opfer einer Person, sondern der gesamten Nation, die die Finger am Abzug hält.
Im chaotischen London scheint nur eine Person den Überblick zu bewahren, mit einem klaren Fokus zur Aufdeckung des Mordes. Detective Inspector Kip Glaspie (Carey Mulligan) ist dem Zuschauer immer einen Schritt voraus, obwohl diesem der Killer schon früh präsentiert wird. Kip Glaspie bleibt ihren männlichen Kollegen stets überlegen. Auch wenn am Ende ihr Plan nicht ganz aufgeht, trägt sie doch Hoffnung in sich, nicht zuletzt für die Nation, in der sie lebt.
Fazit:
«Collateral» , eine Kooperation von BBC und Netflix, überzeugt durch ein spannendes Drehbuch, einer abwechslungsreichen Narration, tollem Cast und einer visuellen Stringenz. Ob das Stilelement der Fokus-Unschärfen bewusst aus dem gleichnamigen Film «Collateral» von Michael Man aus dem Jahre 2004 in ähnlicher Weise eingesetzt wird, um die Figuren in ihre Umgebung einzutauchen, ist nicht ersichtlich, aber frappant. Die Kamera ‚verdingt’ die Darsteller in ihrer Umgebung und schmilzt sie sozusagen in eine Stadt, die sie selbst in sich tragen. Und so wird der Hintergrund zum Vordergrund in diesem Spiegel der Nation.
Auf Netflix Schweiz.
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