Reisen ist momentan nicht angesagt – einmal mehr kommt hier der Film zu Hilfe. Denn durch Welten, Kulturen, Geschichten und Zeiten reisen ist nirgends so einfach und belebend wie auf der Leinwand oder dem Bildschirm. Besonders der Aspekt der Zeit scheint für viele Produktionen einen gewissen Reiz zu haben. Warum? Welche Rolle spielt Nostalgie für das bewegte Bild? Eine Beobachtung.
Im anstehenden «Wonder Woman»-Sequel gehen wir mit der Superheldin zurück in die Achtzigerjahre. Anderswo boomen Remakes von alten Leinwand-Lieblingen (aktuell «Top Gun», «Mulan» und «Godzilla»). Disney lancierte dieses Jahr seine eigene Streaming-Plattform, die vor allem alte Klassiker wieder zu neuem Leben erweckt. Die ökonomischen Hintergründe solcher Remakes und Wiederverwertungen spielen hier bestimmt eine Rolle. Allerdings scheint damit einhergehend auch immer eine vergangene Ära zelebriert und in den Mittelpunkt gestellt zu werden. Doch wieso im digitalen Zeitalter – das beinahe unbegrenzte neue Möglichkeiten bietet – auf Altbewährtes zurückgreifen?
Eine erste kurze Internetrecherche macht es deutlich: Unsere Popkultur liebt Nostalgie – man findet darüber etliche Artikel journalistischer aber auch wissenschaftlicher Art. Das begrenzt sich nicht nur auf die Filmkunst sondern betrifft auch Musik, Mode, Stil. Man könnte eine spannende kulturwissenschaftliche Doktorarbeit darüber schreiben, doch dafür fehlt der Platz, und wir sind kein Wissenschafts-Magazin. Dieser Artikel soll eine unterhaltsame Beobachtung sein, denn irgendwo zwischen dem Bingewatching von «Black Mirror» und «Stranger Things» fiel es mir wie Tomaten von den Augen: Ausgerechnet der Streaming-Gigant Netflix – ein Pionier seines Mediums – stützt sich in seinen Eigenproduktionen auffällig oft auf diesen Nostalgie-Faktor: «Sex Education», «Black Mirror», «The End of the F*** World», «Stranger Things», «Hollywood», «White Lines», «Dark»… Es gibt bestimmt noch mehr. Zwischen Schulterpolstern und The Clash nehmen wir vier dieser Produktionen nun genauer unter die Lupe.
«Black Mirror» von Charlie Brooker
Die Serie begeistert seit 2011 mit Folgen rund um technologischem Fortschritt, der die Welt in unterschiedliche dystopische Szenarien stürzt. «Black Mirror» kann man dem Science-Fiction-Genre zuordnen, und trotzdem findet man auch hier die Nostalgie wieder. Breit diskutiert wurde beispielsweise die Folge «USS Callister», in der ein narzisstischer Programmierer seine eigene Game-Welt im Stil von «Star Trek» entwickelt. Die Figuren sind dementsprechend gekleidet, das Raumschiff Retro pur.
Auch die Folge «San Junipero», die von einem lesbischen Liebespaar handelt, das in verschiedene Zeitwelten reisen kann, passt in dieses Schema. Im bunten Retro-Setting der 1980er kommen sich die zwei Frauen zum Sound von The Smiths, Pixies und Depeche Mode näher. Auch das Poster für diese Folge ist in einem deutlichen 80s-Stil gestaltet, obwohl die Episode durchaus auch in anderen Settings spielt. Erhofften sich die Macher*innen aufgrund des Nostalgie-Effekts einen Mehrwert?

Black Mirror: Bandersnatch ©Netflix
«Wie lassen sich Sci-Fi-Dystopie und 80s-Nostalgie vereinbaren? Eigentlich ziemlich gut, wie ‹Black Mirror› mehrmals unter Beweis stellte.»
Aufruhr sorgte «Black Mirror» auch 2018, als die erste interaktive Episode der Serie Netflix erreicht. «Bandersnatch» handelt vom jungen Stefan, der sein eigenes Game auf den Markt bringen will. Die Zuschauer*innen können dabei an wichtigen Handlungszweigen des Films Entscheidungen für den Protagonisten fällen. Das reicht von der Wahl der Cornflakes-Sorte bis zum Selbstmord. Dieses innovative Projekt – so revolutionär es auch daherkommt – ist komplett in den Achtzigern situiert. Es kommt immer wieder zu Einstellungen von flimmernder Videoästhetik, LSD-Rauschszenen, und natürlich passt die ganze Game-Thematik per se in dieses Zeitalter. Wie lassen sich Sci-Fi-Dystopie und 80s-Nostalgie vereinbaren? Eigentlich ziemlich gut, wie «Black Mirror» mehrmals unter Beweis stellte.
«Sex Education» von Laurie Nunn
Die Coming-of-Age-Serie «Sex Education» über pubertierende Teenager tanzt im Vergleich zu den anderen Produktionen aus der Reihe. Denn sie spielt eindeutig im 21. Jahrhundert. Alle besitzen ein Smartphone mit den neuesten Apps, keine Zeitreisen oder thematische Rückbezüge. Allerdings ist das Setting doch sehr im Retro-Stil gehalten, vor allem in Sachen Kleidung – oder wie man auch verlockt wäre zu sagen: hipsterig.

Lily & Ola in Staffel 2 © Netflix
Weshalb dieses Stilmittel? Wird hier eine zeitgerechte Abbildung der englischen Teenfashion dargestellt oder wollte man absichtlich für Irreführungen sorgen? Will man unterschwellig darauf verweisen, dass Fragen und Verwirrungen rund um Sexualität in jedem Zeitalter ein populäres Teen-Thema ist? Was auch immer der Grund sein mag, die Serie ist stimmig, nicht zuletzt dank des Achtziger-Kostümdesigns.
«The End of the F***ing World» von Charlie Covell
Auch in «The End of the F***ing World» dreht sich die Handlung um rebellische Teenager, nämlich um Alyssa und James. Letzterer hat psychotische Störungen und lechzt danach, zu morden, vorerst allerdings nur Tiere. Alyssa hingegen gibt sich als gleichgültige Rotzgöre, ihr einziges Interesse ist es, aus ihrem Zuhause und dem verschlafenen englischen Städtchen auszubrechen. Über Zufälle findet sich das ungleiche Pärchen zusammen auf der Flucht und schreckt vor Kleinkriminalität und später vor Morden nicht zurück.

«The End of the F***g World» ©Netflix
«Ähnlich wie in ‹Sex Education› ist hier auch das Kostümdesign auffällig retro, was auch die Frage hervorruft, inwiefern das mit einem Trend im britischen Film- und Fernsehschaffen zusammenhängen könnte.»
Thematisch erinnert die Serie oftmals an «Bonnie and Clyde»-Szenen, deren turbulentes Leben auch schon in vielen früheren Produktionen behandelt wurde und entsprechend nostalgisch wirkt. Ähnlich wie in «Sex Education» ist hier auch das Kostümdesign auffällig retro, was auch die Frage hervorruft, inwiefern das mit einem Trend im britischen Film- und Fernsehschaffen zusammenhängen könnte.
«Stranger Things» von den Duffer Brothers
Die (bislang) dreistafflige Serie wirkt wie eine regelrechte Ode an die 1980er Jahre. Im kleinen US-Städtchen Hawkins wird eine Clique von Jungs in übernatürliche Geschehnisse verwickelt. Das Ganze spielt in den Achtzigern, und dementsprechend ist auch das Setting gestaltet. Das ist aber nicht alles: Die Popkultur spielt in der Serie eine zentrale Rolle. So ist etwa der Clash-Hit «Should I Stay or Should I Go» öfters der Mittelpunkt von Szenen – wer die Serie kennt, weiss, was ich meine. Ausserdem sind die Jungs vernarrt in die damalige Popkultur: Sie verbringen ihre Zeit mit «Dungeons and Dragons» und verkleiden sich zu Halloween als Ghostbusters.

«Stranger Things» ©Netflix
«Die 80s werden in der Serie nicht nur eingebaut, sondern geradezu zelebriert.»
Die 80s werden in der Serie nicht nur eingebaut, sondern geradezu zelebriert. Ähnlich wie bei «Black Mirror» wird die Nostalgie paradoxerweise mit dem Sci-Fi-Genre kombiniert. Und das macht die Serie wohl so erfolgreich: Der Release der dritten «Stranger Things»-Staffel erreichte den damaligen Zuschauer*innen-Rekord von 40,7 Millionen auf Netflix.

Key Art Staffel 3 ©Netflix
«Nostalgia is a powerful feeling; it can drown out anything»
«Nostalgia is a powerful feeling; it can drown out anything», sagte Regisseur Terrence Malick einst. Wie ein Blick auf vier erfolgreiche Netflix-Produktionen zeigt, scheint aber genau diese Nostalgie beim Publikum gut anzukommen. Auffallend ist auch, dass sich dieser Trend vor allem in Coming-of-Age-Geschichten oder Serien, in denen Teenager die Hauptrollen spielen, abzeichnet. Womöglich hat das damit zu tun, dass ein Abtauchen in andere Welten ein inhärenter Reiz des bewegten Bildes ist – vor allem, wenn man die inszenierte Epoche gar nicht selber miterlebt hat. Andererseits kann Nostalgie – wie das Zitat auch aufzeigt – ein intensives Gefühl verbreiten. Das kann eine Art Geborgenheit sein, durch die Erinnerungen an angeblich «bessere Zeiten». Wie gesagt: Dieser Faden liesse sich wohl noch viel weiter spinnen als diese erste Beobachtung. In diesem Sinne: Schöne Ferien und gute Zeitreisen!
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Bild- und Trailerquellen: @Netflix
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