Das Fantoche machte den Auftakt, jetzt folgt die grosse Schweizer Festival-Zerreissprobe nach dem Lockdown: Am 24. September rollt Zürich für elf Tage den grünen Teppich für das Kino aus. Das Zurich Film Festival geht in seine 16. Runde und präsentiert mit neuem Team und Schutzkonzept grosses – und sicheres – Kino.
Über 165 Werke gibt es am diesjährigen Zurich Film Festival zu sehen, das zum ersten Mal vom neuen künstlerischen Leiter Christian Jungen herausgebracht wurde. Dass man in weniger als zwei Wochen nicht alle dieser Filme sehen kann, versteht sich von selbst. Die Maximum-Cinema-Redaktion hat sich deshalb neun Highlights herausgepickt, die es dieses Jahr keinesfalls zu verpassen gilt.
«Never Rarely Sometimes Always» von Eliza Hittman
Amerikanische Filme über schwangere Teenager, von «Juno» (2007) bis «Petting Zoo» (2015), drücken sich sehr oft vor dem gerade in den USA noch stark tabuisierten Thema Abtreibung. Nicht zuletzt deshalb verspricht Eliza Hittmans Sundance- und Berlinale-Beitrag «Never Rarely Sometimes Always», ein erfrischendes Filmerlebnis zu sein: Hittman erzählt von der 17-jährigen Autumn (Sidney Flanigan), die im US-Bundesstaat Pennsylvania nicht abtreiben kann, weil Minderjährige dort eine elterliche Erlaubnis dafür benötigen. Also besteigt sie mit ihrer Cousine Skylar (Talia Ryder) einen Bus nach New York, wo es dieses Gesetz nicht gibt. Die Kritiken sind rundum positiv: Hittman sei ein hochgradig einfühlsames Coming-of-Age-Drama gelungen, das anhand eines schlichten Roadtrips zeigt, welchen gesellschaftlichen und gesetzlichen Zwängen Frauen tagtäglich ausgesetzt sind. / Alan Mattli
Den Film zeigen wir auch am 6. Oktober als Maximum Vorpremiere im KOSMOS. Tickets: https://bit.ly/VorpremiereNRSA
«Shirley» von Josephine Decker
Shirley Jackson, die Autorin von amerikanischen Horror- und Mysteryklassikern wie «The Haunting of Hill House» (1959) und «We Have Always Lived in the Castle» (1962), bekommt von Regisseurin Josephine Decker («Thou Wast Mild and Lovely») einen Film gewidmet, der ihrer messerscharfen Gesellschaftskritik und ihrem perfiden Sinn für Humor absolut gerecht wird. Im in Sundance ausgezeichneten «Shirley» erzählen Decker und Drehbuchautorin Sarah Gubbins, wie Jackson (gespielt von Elisabeth Moss) und ihr Ehemann Stanley Hyman (Michael Stuhlbarg) ein durchtriebenes Spiel spielen: Jackson und Hyman haben sich längst voneinander entfremdet und versuchen, ein junges Paar (Odessa Young, Logan Lerman) mittels fieser Manipulation in dieselbe emotionale Sackgasse zu lotsen. Wer sich optimal auf Deckers doppelbödiges Drama vorbereiten will, dem sei Jacksons Non-Fiction-Buch «Life Among the Savages» (1953) – eine bitterböse Dekonstruktion des stereotypen Fünfzigerjahre-Familienidylls – sehr zur Lektüre empfohlen. / Alan Mattli
«Supernova» von Harry Macqueen
Zwei Jahre, nachdem bei Tusker (Stanley Tucci) früh einsetzende Demenz festgestellt wird, begeben er und sein langjähriger Partner Sam (Colin Firth) sich auf eine Reise durch England, auf der sie alte Freunde und Bekannte unter neuen Vorzeichen besuchen. Der gelernte Schauspieler Harry Macqueen hat bereits in seinem Regiedebüt «Hinterland» (2014) gezeigt, dass er ein Händchen für ruhige, unprätentiöse Dramen über Zweiergespanne hat, die den Turbulenzen des Lebens trotzen. Entsprechend darf man sich in «Supernova» wohl nicht nur auf die hochkarätigen Hauptdarsteller freuen, sondern auch auf den nächsten Schritt in der vielversprechenden Karriere von Macqueen. / Alan Mattli
«Kajillionaire» von Miranda July
Filmemacherin und Multimediakünstlerin Miranda July («Me and You and Everyone We Know», «The Future») schickt uns auf eine emotionale und wunderbar absurde Entdeckungsreise einer nicht gelebten Kindheit. Das Ergebnis ist ein unvorhersehbarer Trip voller sprühendem Witz, tagträumerischer Weite und unerwarteten Perspektiven. Das «Crime Comedy Drama» ist zudem wunderbar besetzt mit Evan Rachel Wood, Gina Rodriguez, Richard Jenkins und Debra Winger. / Dafina Abazi
«Schlaf» von Michael Venus
Der Horror-Thriller «Schlaf» wird vom Neuchâtel International Fantastic Film Festival (NIFFF) am ZFF präsentiert. Marlene (Sandra Hüller) hat regelmässig Albträume über ein altes Hotel in einem abgelegenen Bergdorf. Als sie herausfindet, dass dieses wirklich existiert, macht sie sich auf den Weg dahin. Einige Tage später erhält ihre Tochter Mona (Gro Swantje Kohlhof) einen Anruf, dass Marlene im Koma liegt. Um herauszufinden, was passiert ist, reist Mona ihrer Mutter nach. Im Dorf angekommen, verfolgen sie bald seltsame Visionen, und Maria beginnt zunehmend, an ihrer eigenen Wahrnehmung zu zweifeln. In seinem ersten Langfilm stellt Michael Venus Elemente des deutschen Heimatfilms auf den Kopf und kreiert damit ein stimmungsvolles Werk. Dabei gelingt es ihm derart wunderbar, atmosphärischen Grusel aufzubauen, dass «Schlaf» trotz des verzettelten Endes für Genreliebhaber*innen definitiv einen Blick wert ist. / Nicoletta Steiger
«Wanda, mein Wunder» von Bettina Oberli
Zum ersten Mal in seiner Geschichte wird das ZFF mit dem Film einer Regisseurin eröffnet. In «Wanda, mein Wunder» von Bettina Oberli betreut die Polin Wanda (Agnieszka Grochowska) den Patriarchen Josef (André Jung) nach einem Schlaganfall in dessen Familienvilla am See. Die Arbeit ist schlecht bezahlt, aber Wanda braucht das Geld für ihre eigene Familie in Polen. Als Pflegehilfe wohnt sie unter dem gleichen Dach und bekommt so einen intimen Einblick in das Familienleben. So intim, dass Wanda unerwartet schwanger wird. Mit dem Eröffnungsfilm von Bettina Oberli wird nicht nur das Schweizer Filmschaffen, sondern auch die Präsenz von Frauen im Film unterstrichen.
«Nomadland» von Chloé Zhao
Das Drama «Nomadland» hat am diesjährigen Filmfestival von Venedig den Goldenen Löwen gewonnen. Aber nicht nur deswegen verspricht das Werk von Regisseurin Chloé Zhao einer der besten Filme am diesjährigen ZFF zu werden. «Nomadland» erzählt die Geschichte von der etwa 60-jährigen Fern, die in der Weltwirtschaftskrise alles verliert und fortan in ihrem Van von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob durch die USA reist. Dass Zhao gute Filme mit einem feinen Fokus auf Charakteren macht, bewies sie bereits mit ihrem Western «The Rider» (2017) – und für «Nomadland» konnte sie die fantastische Schauspielerin Frances McDormand («Three Billboards Outside Ebbing, Missouri») für die Hauptrolle gewinnen. Alles Punkte, die dafür sprechen, sich «Nomadland» am ZFF anzusehen. / Nicoletta Steiger
«I Am Greta» von Nathan Grossman
Sie ist die Ikone der Klimabewegung, wurde in kürzester Zeit global bekannt. Doch was für ein Mensch ist Greta Thunberg eigentlich, was treibt sie an? Antworten gibt der spannende, sensible Dokumentarfilm «I Am Greta» von Nathan Grossman. Zwei Jahre begleitete der Regisseur Greta mit der Kamera: von ihrem Schulstreik 2018 als 15-Jährige in Stockholm – aus dem sich die internationale «Fridays for Future»-Bewegung entwickelte – bis zu Treffen mit Wirtschaftsleuten und Politikern in den verschiedensten Ländern.
«The Third Day» von Felix Barrett und Dennis Kelly
Das ZFF zeigt die ersten zwei Episoden der britischen Mystery-Serie mit Jude Law in der Hauptrolle, und dies kostenlos. Surreal und bildgewaltig mit einem Schauplatz, auf dem nichts so ist, wie es scheint: Die Miniserie «The Third Day» von HBO und Sky spielt mit den Grenzen zwischen Realität und Fantasie.