Guillermo del Toro frönt in «Nightmare Alley» sowohl seiner Liebe zum Film noir als auch seiner Obsession mit den Schattenseiten des amerikanischen (Alb-)Traumes. Das Resultat kann sich sehen lassen.
«Nightmare Alley», nach «Crimson Peak» (2015) und dem oscarprämierten «The Shape of Water» (2017) schon die dritte Auseinandersetzung Guillermo del Toros mit den düsteren Abgründen der US-amerikanischen Kultur, ist eingespannt zwischen zwei hochgradig literarischen Bildern. Die allererste Szene zeigt Protagonist Stanton Carlisle (Bradley Cooper) dabei, wie er eine in Stofffetzen eingewickelte Leiche durch ein heruntergekommenes Zimmer zerrt, sie in ein unter den Fussbodendielen ausgehobenes Loch kippt und schliesslich anzündet. Die letzte Sequenz spielt im Amerika der frühen Vierzigerjahre; es dominieren Bilder von den unzähligen obdachlosen Opfern der Weltwirtschaftskrise und des Landwirtschaftskollapses im geografischen Herzen der Nation.
Der Anfang erinnert an den grossen amerikanischen Erzähler Edgar Allan Poe, an seine Gruselkurzgeschichten «The Tell-Tale Heart» und «The Black Cat» aus dem Jahr 1843, deren Hauptfiguren vor lauter irrationaler Wut und blindem Hass in den mörderischen Wahnsinn getrieben werden. In «The Tell-Tale Heart» pocht ein gespenstisches Herz unter dem Parkett; in «The Black Cat» führt eine jaulende Katze zur Entdeckung einer eingemauerten Leiche. Das Ende wiederum spielt im Milieu, das der Schriftsteller John Steinbeck unsterblich gemacht hat, insbesondere in seinem preisgekrönten Roman «The Grapes of Wrath» (1939), der bis heute als Meisterwerk des US-Realismus gilt.
Zwei Bezugspunkte, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben – doch del Toro führt sie zu einer gnadenlosen Diagnose der US-Kultur zusammen. Seien es Poes Mörder, Steinbecks Bauernfamilien auf der Suche nach einer besseren Zukunft oder del Toros skrupelloser Schwindler Carlisle – es ist letztlich immer die gleiche Geschichte: jene vom amerikanischen Traum, der sich als fatale Mischung aus unstillbarer Gier, gewaltbereiter Männlichkeit und selbstzerstörerischem Aberglauben erweist.
«Es ist letztlich immer die gleiche Geschichte: jene vom amerikanischen Traum, der sich als fatale Mischung aus unstillbarer Gier, gewaltbereiter Männlichkeit und selbstzerstörerischem Aberglauben erweist.»
Carlisles Versuch, es bis ganz nach oben zu schaffen, beginnt auf einem zwielichtigen Jahrmarkt, der vom gerissenen Clem (der herrlich schmierige Willem Dafoe) mit eiserner Faust geführt wird. Nicht alle Attraktionen mögen legal sein – allen voran der Trunkenbold, der in einem Käfig gehalten wird und zur allgemeinen Unterhaltung allabendlich einem Huhn den Kopf abbeissen muss –, und wer aus der Reihe tanzt, bekommt es mit Muskelprotz Bruno (Ron Perlman) und dem kleinwüchsigen Major (Mark Povinelli) zu tun. Und dennoch bietet das abgewrackte Zeltdorf, wie schon in Tod Brownings Jahrmarkt-Horrorklassiker «Freaks» (1932), allerlei Aussenseiter*innen ein festes Zuhause – von der verträumten «elektrischen Frau» Molly (Rooney Mara) bis hin zum hellsehenden Pärchen Zeena (Toni Collette) und Pete (herzzerreissend: David Strathairn), deren beste Tage weit hinter ihnen liegen.
Hier findet Carlisle Unterschlupf, Arbeit und eine neue Berufung: die gepflegte Hochstapelei, den kunstgewordenen Betrug. Von Zeena und Pete lässt er sich in die Geheimnisse der Suggestion, der Publikumsmanipulation und des Menschenlesens einweihen; von Clem lernt er das hinterhältige Süssholz-Raspeln und wie wichtig es ist, Geschichten zielgerichtet auszuschmücken; zusammen mit Molly feilt er am dramatischen Potenzial ihrer Nummer. Als ihm Clems Königreich zu eng wird, brennt er mit Molly durch, um in der Grossstadt als Mentalist die oberen Gesellschaftsschichten um den Finger zu wickeln. Doch da hat er die Rechnung ohne die misstrauische Psychoanalytikerin Lilith Ritter (Cate Blanchett) gemacht.
Ein Gothic-Noir über die entmenschlichenden Konsequenzen des Erfolgs, in dem die wahren Monster nicht die aus der Gesellschaft Verstossenen sind, sondern die rücksichtslosen weissen Männer an den Schalthebeln von Kapital und politischer Macht. Ein Protagonist, der die Todsünde des Schaustellerdaseins begeht und damit zu einer unbequemen Metapher für Amerika selbst wird: Er beginnt, an seinen eigenen Schwindel zu glauben.
«Der Stoff ist wie gemacht für del Toro – und hätte in seinen Händen wohl zum Meisterwerk werden können, wäre er der Erste gewesen, der ihn bearbeitet hätte.»
Der Stoff ist wie gemacht für del Toro – und hätte in seinen Händen wohl zum Meisterwerk werden können, wäre er der Erste gewesen, der ihn bearbeitet hätte. Ersonnen wurde die düstere Moralfabel jedoch von William Lindsay Gresham in seinem gleichnamigen Roman; und dass sie auf der Leinwand funktionieren kann, bewies der britische Hollywood-Handwerker Edmund Golding bereits 1947 in seiner Erstverfilmung.
Entsprechend wirkt einiges in del Toros Version wie Mimikry. So wie «The Shape of Water» wie eine kolorierte Auffrischung der B-Movies der Fünfzigerjahre daherkam, ist sein «Nightmare Alley» eine stimmungsvolle Liebeserklärung an den klassischen Film noir, die versucht, dessen ikonische Schwarzweiss-Ästhetik in eine «zeitgemässere» Bildsprache zu übersetzen. Die dunklen Schatten und stilisierten Schlaglichter, für die das Genre berühmt ist, haben sich gehalten und erfüllen ihren Zweck hervorragend; doch hier werden sie ergänzt durch eine ausgewaschene, durchaus atmosphärische Farbpalette, die aber auch ihre Schwächen hat. Während zwar die wunderbar künstlichen Kulissen in Farbe noch bedrohlicher, noch toter aussehen, als es wohl in Monochrom der Fall gewesen wäre, verliert das Ganze in dieser Form auch etwas an suggestiver Kraft: Mit Ausnahme eines erschütternd nonchalanten Mord-Selbstmordes berauben die Hochglanz-Aufnahmen von Kameramann Dan Laustsen die für del Toro typischen Gewaltausbrüche ein wenig ihres Schockeffekts.
«Del Toro ist ein abgründiger Noir gelungen, dessen überhöhte Moralität, dessen Pathos und dessen alles andere als subtile tragische Ironie, auch dank der facettenreichen Darbietung von Bradley Cooper, stets gewollt künstlich und nie irritierend gekünstelt wirken.»
Doch in «Nightmare Alley» steckt genug brillantes Handwerk, genug Gespür für die Filmhistorie, um dieses Nacheifern letztlich mühelos überzeugen zu lassen. Del Toro ist ein abgründiger Noir gelungen, dessen überhöhte Moralität, dessen Pathos und dessen alles andere als subtile tragische Ironie, auch dank der facettenreichen Darbietung von Bradley Cooper, stets gewollt künstlich und nie irritierend gekünstelt wirken.
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Kinostart Deutschschweiz: 20.1.2022
Filmfakten: «Nightmare Alley» / Regie: Guillermo del Toro / Mit: Bradley Cooper, Rooney Mara, Cate Blanchett, Willem Dafoe, Toni Collette, David Strathairn, Richard Jenkins, Ron Perlman, Mary Steenburgen, Peter MacNeill, Mark Povinelli, Tim Blake Nelson / USA / 150 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © 2021 Searchlight Pictures / Disney Schweiz
In «Nightmare Alley» eifert Guillermo del Toro dem Film noir nach. Das ist atmosphärisch, unterhaltsam und ein weiterer stimmiger Eintrag in del Toros Auseinandersetzung mit der US-Kultur.
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