Die Dokumentation «No Other Land» von einem israelisch-palästinensischen Kollektiv über den Alltag in einer Dorfgemeinschaft im Westjordanland sorgte bei der diesjährigen Berlinale für einen Skandal. Das soll aber nicht davon ablenken, wie essenziell der Film ist.
Am 25. Februar dieses Jahres standen der israelische Journalist Yuval Abraham und der palästinensische Aktivist Basel Adra während der Abschlussgala der Internationalen Filmfestspiele Berlin auf der Bühne des Berlinale-Palastes, um für ihren Film «No Other Land», den sie zusammen mit der Israelin Rachel Szor und dem Palästinenser Hamdan Ballal realisiert hatten, den Preis für die beste Dokumentation entgegenzunehmen.
Die Berlinale endete nur knapp viereinhalb Monate nach dem grauenvollen Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023, bei dem über 1’100 Israelis ermordert wurden, und dem Beginn des brutal geführten, von UNO-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese als genozidal beschriebenen israelischen Einmarsches im Gazastreifen. Dass die standesgemässen Dankesreden von Abraham und Adra ganz besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen würden, war also zu erwarten. Doch der Eklat, für den die beiden mit ihren Äusserungen sorgten, zeigte, in welch absurde Sphären der Israel-Palästina-Diskurs, gerade in der deutschsprachigen Welt, bereits abgedriftet war.
«Der Eklat, für den Basel Adra und Yuval Abraham mit ihren Äusserungen sorgten, zeigte, in welch absurde Sphären der Israel-Palästina-Diskurs, gerade in der deutschsprachigen Welt, bereits abgedriftet war.»
«Ich bin Israeli, Basel ist Palästinenser», sagte Abraham in seiner Rede. «In zwei Tagen werden wir in ein Land zurückkehren, in dem wir nicht gleich sind. Ich lebe unter zivilem, Basel unter Militärgesetz. Wir wohnen 30 Minuten voneinander entfernt, aber ich habe das Stimmrecht, Basel nicht. Ich kann mich in meinem Land frei bewegen. Basel, wie Millionen andere Palästinenser, ist im besetzten Westjordanland eingesperrt. Diese Situation der Apartheid, diese Ungleichheit zwischen uns, muss aufhören.»
Adra, der seit seiner Kindheit mit seiner Familie in der von Israel beanspruchten Dorfgemeinschaft Masafer Yatta im südlichen Westjordanland lebt, fügte in seiner Rede hinzu, es sei schwierig für ihn, die ihm verliehene Auszeichnung zu feiern, während «in Gaza Zehntausende meines Volkes ermordet und massakriert werden. Masafer Yatta wird von israelischen Baggern dem Erdboden gleichgemacht. Ich bitte nur um eines: Weil ich in Berlin bin, bitte ich Deutschland darum, die UNO zu respektieren und damit aufzuhören, Waffen nach Israel zu liefern.»
In der Folge schwappte eine Welle der Empörung über Abraham, Adra und ihren Film. Berlins Bürgermeister Kai Wegner sprach von antisemitischen Statements, die das Ende der Berlinale überschatteten. Als die deutsche Kulturministerin Claudia Roth dafür kritisiert wurde, «No Other Land» applaudiert zu haben, verteidigte sie sich mit der bizarren Erklärung, sie habe nur den Israelis Yuval Abraham und Rachel Szor, nicht aber den Palästinensern Basel Adra und Hamdan Ballal Beifall geklatscht, und schob nach, die Dankesreden seien «erschreckend einseitig und von einem tiefgehenden Israelhass geprägt» gewesen. In einschlägigen Feuilletons – etwa dem der «NZZ» – war Ähnliches zu lesen.
Kurz: Abraham und Adra wurden für ihre Kritik an der sozialen Ungleichheit in und der aggressiven Kriegsführung von Israel von vielen Exponent*innen in Medien und Politik als hartgesottene Antisemiten gebrandmarkt. Es entbehrt nicht einer gewissen bitteren Ironie, dass dies unter anderem zur Folge hatte, dass Abrahams Familie in Israel – israelische Staatsbürger*innen, die von osteuropäischen Juden und Jüdinnen abstammen, von denen viele dem Holocaust zum Opfer fielen – zum Ziel eines rechten Mobs wurde.
«Es sind also keine einfachen Vorzeichen, unter denen ‹No Other Land› in den Schweizer Kinos startet – doch gerade deshalb ist es essenziell, den Film von Adra, Abraham, Ballal und Szor in seiner ganzen unbeqeuemen Menschlichkeit und moralischen Klarheit zu erleben.»
Neun Monate später ist diese Kampagne, «No Other Land», seine Regisseur*innen und deren Anliegen im Allgemeinen mit dem Vorwurf des Antisemitismus zu belegen, noch immer nicht abgeklungen. Der Fim hat, wohl nicht zuletzt aufgrund dieses brisanten politischen Kontexts, noch immer keinen US-amerikanischen Verleih, was finanzielle Konsequenzen haben könnte. Die offizielle Website der Stadt Berlin versah ihren Hinweis auf eine öffentliche Vorführung der Dokumentation unlängst mit der Warnung, sie habe «antisemitische Tendenzen». Und die jüngst vom deutschen Bundestag beschlossene Resolution gegen Judenhass wird unter anderem von liberalen jüdischen Organisationen infrage gestellt, weil sie so offen formuliert ist, dass Kritik an der Politik der israelischen Regierung oder dem Verhalten des israelischen Militärs unter Umständen bereits genügt, um als antisemitisch und damit strafrechtlich relevant eingestuft zu werden.
Es sind also keine einfachen Vorzeichen, unter denen «No Other Land» in den Schweizer Kinos startet – doch gerade deshalb ist es essenziell, den Film von Adra, Abraham, Ballal und Szor in seiner ganzen unbeqeuemen Menschlichkeit und moralischen Klarheit zu erleben: In einer Branche, in der Kinobetreibende, Produktionshäuser und Festival-Marketingabteilungen nur zu gerne auf die Macht des bewegten Bildes verweisen, Grenzen zu überschreiten, marginalisierten Stimmen eine Plattform zu bieten und Ungerechtigkeiten und Missstände anzuprangern, ist «No Other Land» das aktuell wohl formvollendetste Beispiel für dieses hehre Ideal.
«Immer und immer wieder fahren israelische Bagger und Armeevehikel auf, um Spielplätze, Brunnen, Ziegenpferche, Taubenschläge, Wohnhäuser und Grundschulen abzureissen – alles mit der Erklärung, die hauptsächlich aus Hirtenfamilien bestehende Lokalbevölkerung stelle ein Sicherheitsrisiko für die nahen militärischen Einrichtungen dar.»
Mit Basel Adra als nominellem Protagonisten im Zentrum porträtiert der Film den Alltag in Masafer Yatta, einem seit mindestens dem 19. Jahrhundert von Palästinenser*innen bewohnten Hügelgebiet in der Nähe von Hebron, das vom israelischen Militär für Truppenübungen und von israelischen Siedler*innen als Bauraum beansprucht wird.
Der Grossteil von «No Other Land» wurde zwischen 2019 und 2023 gefilmt, doch die Bilder, die im Laufe des 95-minütigen Dokumentarfilms zu sehen sind, ähneln sich auf verdriessliche Weise. Immer und immer wieder fahren israelische Bagger und Armeevehikel auf, um Spielplätze, Brunnen, Ziegenpferche, Taubenschläge, Wohnhäuser und Grundschulen abzureissen – alles mit der Erklärung, die hauptsächlich aus Hirtenfamilien bestehende Lokalbevölkerung stelle ein Sicherheitsrisiko für die nahen militärischen Einrichtungen dar, und alles juristisch und notariell beglaubigt von einem System, in dem die Bewohner*innen von Masafer Yatta kein politisches Mitspracherecht geniessen. Wann immer sich die Einheimischen gegen die Zerstörung ihres Hab und Guts wehren, wird ihnen unter vorgehaltenem Sturmgewehr mit Verhaftung oder Schlimmerem gedroht. Wie Adra und der journalistisch aus Masafer Yatta berichtende Abraham wiederholt feststellen, genügt manchmal auch einfach das Filmen mit einem Smartphone als Provokation.
Als Spross einer aktivistisch tätigen Familie weiss der inzwischen 28-jährige Adra auch, dass die Schikane nicht erst seit seinen ersten verwackelten Aufnahmen von israelischen Soldat*innen und staatlich abgesegneten Bauunternehmern unerträglich ist. Adras erste konkrete Erinnerung ist der Anblick eines gleissenden Lichts – die Lampe eines israelischen Soldaten, der mit seinen Kamerad*innen mitten in der Nacht gekommen war, um seinen Vater, einen international bekannten Exponenten des unbewaffneten palästinensischen Widerstands im Westjordanland, abzuführen. Die nervenaufreibenden, aufwühlenden, und von zunehmend ungezügelter israelischer Gewaltbereitschaft geprägten Bilddepeschen, die Adra, Abraham, Ballal und Szor von dieser Front des palästinensischen Kampfs um Emanzipation in die Welt hinaustragen, werden ausserdem ergänzt durch Videos, die Adras Vater um die Jahrtausendwende herum in Masafer Yatta machte und die deprimierend ähnliche Szenen zeigen.
Mit diesen Sequenzen bemüht sich «No Other Land» darum, der einfach auszublendenden Abstraktion von Schlagzeilen wie «Zusammenstösse zwischen Palästinensern und israelischen Siedlern» oder «Palästinenser demonstrieren gegen Militärbesatzung» oder «Palästinenser verlassen militärisches Sperrgebiet» eindringliches Bildmaterial aus erster Hand entgegenzusetzen. Mehrfach ist Adra zu sehen, wie er vor Szors Kamera nach seiner eigenen Kamera sucht oder sich vergewissert, dass genügend Kameras und Handys vor Ort sind, um die jüngste Gebäudezerstörung in Masafer Yatta zu dokumentieren: Der erste Schritt, der getan werden muss, um den Aktivismus der Adras und den von linken Israelis mitgetragenen Kampf gegen den unterdrückerischen Status quo international im grossen Stil zu legitimieren, ist, das Ausmass und die schiere Perfidie der Unterdrückung bildlich festzuhalten.
«‹No Other Land› bemüht sich darum, der einfach auszublendenden Abstraktion von Schlagzeilen wie ‹Zusammenstösse zwischen Palästinensern und israelischen Siedlern› oder ‹Palästinenser demonstrieren gegen Militärbesatzung› oder ‹Palästinenser verlassen militärisches Sperrgebiet› eindringliches Bildmaterial aus erster Hand entgegenzusetzen.»
Man könnte nun argumentieren, dass die Bevölkerung von Masafer Yatta ihrer in diesem Film dargestellten Situation entrinnen könnte, indem sie den Befehlen der israelischen Armee Folge leistet und in die Grossstadt Hebron oder in ein anderes, weiter von der Grenze entferntes palästinensisches Dorf zieht. Doch die Kehrseite der erschreckenden Dokumente aus der Ich-Perspektive – ein Stilmittel, das hier ähnlich unmittelbar und effektiv eingesetzt wird wie in den international gefeierten filmischen Kriegsreportagen «For Sama» (2019) und «20 Days in Mariupol» (2023) – sind die Momente der Ruhe, in denen «No Other Land» solche zynisch-utilitaristischen Einwände aushebelt und die Relevanz und die dornige Mehrdeutigkeit seines Titels unterstreicht.
Wenn die Bagger abgezogen sind und in Adras Nachbarschaft wieder so etwas wie Ruhe eingekehrt ist, erhält das Publikum Einblick in eine eng miteinander verschweisste Dorfgemeinschaft, wo Verwundete kommunal gepflegt werden – auch weil das Gesundheitswesen im Westjordanland von der Besatzung empfindlich reduziert wurde – und man sich gegenseitig dabei hilft, beschädigte Gebäude in Nacht-und-Nebel-Aktionen wieder instand zu setzen. In Kombination mit jenen Szenen, in denen Adra Protestzüge anführt und seine Eltern mit anderen Einheimischen über ihre Lage diskutieren, wird ersichtlich, dass die von Militär und Siedler*innen angestrebte Umsiedelung eine Form der Kriegsführung gegen das Aufkommen einer breit abgestützten, identitätsstiftenden palästinensischen Gemeinschaft ist: Was sie mit ihren in «No Other Land» dokumentierten Aktionen also zu gewinnen haben, ist nicht nur geografischer Raum, sondern auch eine Abschwächung des palästinensischen Staatsgedankens. Und wenn irgendwann alle besetzten Gebiete Palästinas das Schicksal von Masafer Yatta teilen und «aus Sicherheitsgründen» geräumt werden «müssen», dann werden die Vertriebenen «kein anderes Land» mehr haben, weder geografisch noch emotional.
Darüber hinaus handelt «No Other Land», gerade in den Momenten, in denen Adra und Abraham nicht primär als Aktivisten, sondern als Freunde auftreten, auch von der gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Katastrophe, die das israelische Apartheid-System heraufbeschwört. Denn während das Westjordanland für Abraham tatsächlich zu einem gewissen Grad «no other land» ist – er kann die Grenze in beide Richtungen überqueren –, ist Adra einer ganzen Reihe zusätzlicher Restriktionen unterworfen. So stehen sich die beiden trotz ihrer politischen Genossenschaft nicht ebenbürtig gegenüber – ein Umstand, der sich in vielen ihrer Dialoge als spürbare Spannung niederschlägt, sei es Abrahams peinliche Berührtheit, wenn er sich auf den Heimweg macht, oder Adras leichter Argwohn, wenn er Abraham fragt, was er sich von seinen Zeitungsartikeln über Masafer Yatta erhoffe. Sosehr die beiden auch auf dasselbe Ziel hinarbeiten, eine Freundschaft auf gleicher Stufe ist für sie unter den gegenwärtigen politischen, juristischen und strukturellen Voraussetzungen nicht möglich.
«Sosehr Adra und Abraham auch auf dasselbe Ziel hinarbeiten, eine Freundschaft auf gleicher Stufe ist für sie unter den gegenwärtigen politischen, juristischen und strukturellen Voraussetzungen nicht möglich.»
«No Other Land» ist keine Geschichtslektion über den Israel-Palästina-Konflikt, keine Aufarbeitung des aktuellen Kriegs im Gazastreifen, keine Replik auf die furchtbaren Ereignisse vom 7. Oktober 2023. Es ist eine subjektiv erzählte, kalkuliert einseitige Reportage von einem palästinensisch-israelischen Kollektiv, die mit erfrischend klarsichtiger Direktheit die Frage stellt, wie viel mehr Bilder wie jene aus Masafer Yatta man sehen muss, um zum Schluss zu kommen, dass die israelische Politik in Palästina – insbesondere jene von Premierminister Benjamin Netanjahu – nicht nur gescheitert ist, sondern eine ethische und humanitäre Bankrotterklärung ist. Wir täten gut daran, zuzuhören.
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Kinostart Deutschschweiz: 15.11.2024
Filmfakten: «No Other Land» / Regie: Basel Adra, Yuval Abraham, Hamdan Ballal, Rachel Szor / Mit: Basel Adra, Yuval Abraham / Palästina, Norwegen / 95 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Ciné-Doc
Die erschütternde und hochaktuelle Dokumentation «No Other Land» ist ein essenzielles Porträt der ungleichen Verhältnisse, unter denen Palästinenser*innen leben.
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