«Land of the free, home of the brave». Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Hier wird das Streben nach Glück grossgeschrieben und der Tellerwäscher kann es zum Millionär bringen. Um Amerika ranken sich zahlreiche inspirierende Narrative – Narrative, deren Gültigkeit Chloé Zhao in ihrem oscarprämierten Roadmovie «Nomadland» auf tief berührende Weise hinterfragt.
«Go West, young man», lautet ein berühmtes Motto aus der Geschichte der Vereinigten Staaten: Im Osten, so der Autor Horace Greeley, dem der Spruch oft zugeschrieben wird, gebe es nur hohe Mieten, schlechtes Essen, staubige Luft und verrohte Sitten. «Go West and grow up with the country»: Man solle das Glück im Abenteuer suchen, in der Weite des nordamerikanischen Kontinents, der, gemäss dem kolonialen Pioniergeist, ja dazu da ist, von weissen Siedler*innen erobert zu werden.
Erwähnt wird der Satz in «Nomadland» zwar nicht, doch er geistert eindeutig darin herum, angefangen bei der Prämisse: Fern (Frances McDormand) ist weder jung noch ein Mann, hat ihr Leben im amerikanischen Westen verbracht und steht 2011, 139 Jahre nach Horace Greeleys Tod, vor dem Nichts. Im Zuge der Finanzkrise verlor ihre Heimat, die Industrie-Kleinstadt Empire in Nevada, ihren Hauptarbeitgeber und verschwand innert weniger Monate praktisch von der Landkarte. Frisch verwitwet, kehrt Fern Empire den Rücken und bricht in einem zum Campervan umfunktionierten Kleinlaster auf, um sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten: im Amazon-Paketezentrum zur Weihnachtszeit, als Nationalparkangestellte in South Dakota, als Erntehelferin in Nebraska.
«Was bedeutet es, im Amerika des 21. Jahrhunderts ‹frei› sein zu wollen? Wie steht es um den uramerikanischen Traum nach individueller Selbstverwirklichung?»
Die chinesische Regisseurin Chloé Zhao setzt sich in ihrem dritten Langspielfilm mit der Frage auseinander, was es bedeutet, im Amerika des 21. Jahrhunderts «frei» sein zu wollen. Wie steht es um den uramerikanischen Traum nach individueller Selbstverwirklichung? Ist geografische Mobilität immer noch gleichbedeutend mit der Chance auf sozialen Aufstieg? Und wo bleiben bei diesen althergebrachten Frontier-Idealen Dinge wie Gemeinschaft, Zugehörigkeitsgefühl und Solidarität?
Wie schon in «Songs My Brother Taught Me» (2015) und «The Rider» (2017), deren Protagonist*innen fiktionalisierte Versionen ihrer Darsteller*innen waren, setzt Zhao in ihrer Behandlung dieser Themen auf eine Mischung aus narrativem Spielfilm und dokumentarischen Einschlägen. Jessica Bruders Sachbuch-Vorlage entsprechend, trifft Fern auf ihrer Fahrt auf weitere moderne Nomad*innen, die sich weitgehend selber spielen und denen Zhao viel Platz einräumt, um über ihren Lebensstil Auskunft zu geben. Linda May erzählt, wie sie herausfand, dass sie von ihrer Rente nicht würde leben können, und beschloss, sich am «Vandweller»-Guru Bob Wells ein Vorbild zu nehmen und sich fortan auf der Landstrasse durchzuschlagen. Merle (Merle Redwing) wollte nicht wie jener Arbeitskollege enden, der kurz vor der Pensionierung tot umfiel, ohne je mit seinem Segelboot gefahren zu sein. Charlene Swankie erinnert sich als krebskranke Swankie in der bewegendsten Szene des Films an all die atemberaubenden Anblicke, die sich ihr auf ihren Reisen durch Nordamerika boten.
Der amerikanische Traum befindet sich in «Nomadland» in Konflikt mit sich selbst: Persönliche Freiheit scheint die Antithese zur kapitalistisch geprägten «Leistungsgesellschaft» zu sein. Der Preis der finanziellen Sicherheit ist es, sich zu Tode zu arbeiten – wobei selbst hier, dank eines haarsträubend breitmaschigen sozialen Sicherheitsnetzes, das Überleben niemals gänzlich gesichert ist. Wer bedingungslos unabhängig sein will, muss sich, so die Implikation, für ein Leben in prekärer Armut entscheiden.
«Zhao und Kameramann Joshua James Richards bebildern diese Lebensrealität mit majestätischen Weitwinkelaufnhamen, die erahnen lassen, was Horace Greeley einst zu seinem Hohelied auf den Westen bewog: farbenprächtige Sonnenuntergänge, endlose Himmel, demütig stimmende Naturwunder.»
Es könnte fast schon ironisch anmuten, dass Zhao und Kameramann Joshua James Richards diese Lebensrealität mit majestätischen Weitwinkelaufnhamen bebildern, die erahnen lassen, was Horace Greeley einst zu seinem Hohelied auf den Westen bewog. Farbenprächtige Sonnenuntergänge, endlose Himmel, demütig stimmende Naturwunder: Die berückende Bilderwelt von «Nomadland» scheint in scharfem Kontrast zu Ferns emotionalem, nicht selten ernüchterndem Trek zu stehen. Doch in diesem scheinbaren Widerspruch steckt die vielleicht stärkste Aussage von Zhaos Film: Amerika ist ein wunderschönes, aber vom Mammon zerrüttetes Land.
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Kinostart Deutschschweiz: 10.6.2021
Filmfakten: «Nomadland» / Regie: Chloé Zhao / Mit: Frances McDormand, David Strathairn, Linda May, Charlene Swankie, Bob Wells / USA / 108 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © The Walt Disney Company Switzerland. All Rights Reserved.
Chloé Zhaos halbdokumentarisches Roadmovie «Nomadland» ist eine bewegende, herausragend gefilmte Annäherung an die Widersprüchlichkeit des amerikanischen Traumes.
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